Dem Wort Basar haftet für mich immer noch dieses orientalisch-exotische an: Gehört oder gelesen sehe ich gleich riesige Körbe von Früchten vor meinem inneren Auge, der Geruch von Zimt steigt mir in die Nase – das einzige Gewürz, das ich eindeutig aus zu Mini-Bergen aufgeschütteten, bunten Gewürzhaufen erkenne – es wird geschrien, gefeilscht, gelacht, der neueste Tratsch macht die Runde. Vielleicht gibt es auch einen Stand, an dem lebende Tiere wie Hühner oder Schildkröten zum Kauf angeboten werden, in jedem Fall ist es heiß. An Klischees klammert man sich so lange, bis sie von der Wirklichkeit überholt werden. Letzte Woche habe ich zwei volle Tage auf dem Osch-Basar am westlichen Rand der Innenstadt von Bischkek verbracht. Er ist der größte in der Umgebung, gefolgt vom Alamedin-Basar am östlichen Rand; Im Stadtzentrum selbst befinden sich kleinere Basarhallen, deren Eingang meist gut versteckt hinter der Leuchtreklame von Fast-Food-Ketten liegt. Der Oschbasar befindet sich auf dem Gelände des ehemaligen Kolchosenmarktes (Kolchosen waren die sowjetischen Genossenschaften von landwirtschaftlichen Betrieben). Bauarbeiter aus dem im Süden des Landes gelegenen Osch erbauten in den 1980er Jahren den Markt - daher der Name Oschbasar. Bis heute verändert sich das Gelände ständig, neue Stände kommen hinzu, alte Gebäude werden renoviert. Das Angebot passt sich der Nachfrage an, längst gibt es hier nicht mehr nur Lebensmittel, Kleidung und Haushaltskram zu kaufen, immer mehr Raum nehmen Handyzubehör und elektronische Gadgets ein. Die schwemmt massenhaft und billig der große Nachbar China auf den Markt. Kurzum: Auf dem Basar gibt es ALLES. Darum erledigen die Kirgisen in der Regel auch alle ihre Einkäufe auf Basaren. Zwar schießen im Moment Supermärkte mit einem ähnlichen Sortiment wie Pilze aus dem Boden, doch die Preise hier sind um ein Vielfaches höher und mit dem Durchschnittseinkommen nicht zu vereinbaren. Hier kaufen hauptsächlich Expats (Kurzzeitaussiedler) aus dem Westen ein oder die reiche Elite des Landes. Ich versuche, mich nur bei Reiswaffeln und Milchprodukten an den nahegelegenen Supermarkt zu halten, denn ersteres gibt’s auf dem Basar nicht und die ungekühlten Milcherzeugnisse der Bauern werden auf dem Weg zum Basar durch eine Portion Antibiotika haltbar gemacht. Da geht meine Gesundheit dann vor... Die Atmosphäre auf dem Basar ist wirklich einzigartig. Einmal mit Menschen gefüllt gibt es kaum Halt im Treiben, man schiebt und schubst sich durch die Gänge, tatsächlich wird geschrien, gefeilscht und gelacht. Heiß ist es zwar nicht, doch mit über 20 Grad noch recht warm für Ende Oktober. Das wirklich exotische hier sind wir: Nadine und ich, die Schweizerin und die Deutsche. Zwei unverheiratete, kinderlose Frauen Anfang 30, die mit großen Videokameras über den Basar laufen und einen Kinofilm drehen. Für Nadines neue Dokumentation portraitieren wir die Frauen in der Fleischhalle des Basars, sprechen mit Ihnen über die Arbeit, ihre Lebensgeschichte – und Männer natürlich, so von Frau zu Frau... Zuviel kann ich nicht verraten, dafür lohnt es sich zu warten, bis der Film nächstes Jahr auf europäischen Filmfestivals läuft. Aber ein Blick hinter die Kulissen ist gestattet. Wir verbringen zwei Arbeitstage mit den Frauen, die hier von früh bis spät Innereien verkaufen. Der Geruch in der Halle ist genauso schlimm, wie man ihn sich vorstellt. Und er bleibt in der Kleidung haften. Morgens kommen die kopflosen Leiber der Bullen, Kühe und Schafe auf Karren in die Halle gefahren, werden vor Ort zerhackt, die Einzelteile dann akkurat an den Fleischerhaken aufgehängt. Zungen werden nochmal extra geputzt, Beinchen wie Holzscheite übereinander geschichtet. Das teuerste Fleisch hier kommt vom Yak, das auf den Hochweiden des Landes lebt. Die abgetrennten Fettmassen hängen bizarr wie große Leinenlaken auf den Garderoben hinter den Verkaufstresen, dazwischen die Jacken der Arbeiter/innen. Die Tierköpfe kommen auf weiteren Karren, filmen sollen wir das aber nicht: Das sei schmutzig, erwecke einen komischen Eindruck. Viele haben Angst, dass wir sie und das Land schlecht dastehen lassen. Unterdessen drapieren die Frauen sorgsam die Auslage auf den Alutheken: Därme werden zu Zöpfen verflochten, Magen umgestülpt, damit die feine Struktur im Innern gut zur Geltung kommt; Das Highlight ist ein Stück Rinderschwanz, das auf einer umgedrehten Pappschachtel thront und somit das restliche Angebot überragt. Es sind solche Details, mit denen die Frauen Würde bei der Arbeit mit den Innereien wahren. Immer wieder wischen sie das Blut von der Theke, tupfen mit einem Schwamm den Fleischsaft weg, der aus den abgespülten Innereien rinnt. Dazu werde ich ständig aus dem Weg gemopt, wenn der Junge vom Reinigungsdienst seinen Wischer über den Boden schwingt. Anfangs sind wir noch zögerlich, wissen nicht so richtig, wohin mit unserem Equipment: "Nee, nicht da in den Saft, da wurd gerade ein Euter zerteilt. - Sollen wir die Taschen vielleicht da an den Fleischhaken aufhängen? - Uh, pass auf, dein Stativ steht im Blut." Am zweiten Tag ist das alles egal, der Geruch ist uns fast schon vertraut, die Kameras lassen wir auf der Verkaufstheke stehen und was an unseren Sohlen klebt, lässt sich ja wieder abwaschen... Auch die Mitarbeiter/innen in der Fleischhalle haben uns mittlerweile akzeptiert. Wie ein Lauffeuer hatte es die Runde gemacht, dass hier ein Kinofilm entsteht und dass wir deutsch sprechen. Ich werden mit "Guten Tag" oder "Mein Name ist..." begrüßt, wenn ich die Halle nur kurz verlassen habe und wieder zurückkomme, viele winken mich ran: Das hier, das musst du auch filmen. Wir werden zu Brot und Tee eingeladen, eine abwischbare Picknickdecke sorgt für häusliche Atmosphäre neben all den Innereien. Die Frauen sind dankbar, dass sich jemand für sie und ihre Arbeit interessiert, daher gibt es noch Geschenke für uns. Ich als Vegetarierin bin fein raus und nehme dankbar einen Leib Brot entgegen, Nadine hingegen wird mit Magen und Darm beschenkt. Zweieinhalb Stunden kochen und ein paar Gewürze dazu, dann sei das eine Leibspeise, versichern die Frauen. Ich sehe Nadine die Skepsis an, aber artig nimmt sie die Plastiktüte entgegen. Ihre Katze wird sich freuen.
Am Tag nach den Dreharbeiten bin ich froh, wieder in frische Kleidung schlüpfen zu können und habe den Geruch der Innereien bald vergessen. Die Begegnungen und Gespräche aber hängen mir noch einige Tage nach. Ich freue mich schon auf meinen nächsten Basarbesuch – ich werde mit Sicherheit einen Abstecher in die Fleischhalle machen.
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Joggen ist nicht so richtig angesagt im Zentrum von Bischkek. Zwar verirren sich einzelne Läufer in den Eichenpark im Norden der Stadt, gar nicht weit von meiner Wohnung entfernt. Doch abgesehen von den verständnislosen Blicken, die ich in meinen Barfuß-Laufschuhen auf dem Weg dorthin ernten könnte, schreckt mich die Menge an Abgas ab, die ich mit jedem tiefer werdenden Atemzug bis in die Spitzen meiner Lunge saugte. Man muss es ja nicht drauf anlegen. Außerdem ist im Moment noch Hochsaison in der Baubranche – überall sind die Straßen aufgerissen (und nein, sie sind dann nicht abgesperrt), vor losen Gullideckeln muss man sich ohnehin hüten. Je schneller der Schritt, desto größer die Gefahr, unversehens in die Kanalisation zu plumpsen. Ich habe diverse Narben dazu gesehen. Sie machen nicht sonderlich sexy. Bevor ich mich also im Fitness-Studio um die Ecke anmelde, um meinen Bewegungsdrang zu stillen, versuche ich es mit Schwimmen und finde mich vor dem imposant wirkenden Dolphin Pool wieder. Diese Sportstätte aus Sowjetzeiten hat sich auch innen noch etwas vom alten Flair bewahrt. An der Kasse verkauft eine alte Frau die Eintrittskarten und ihren Runzeln nach zu urteilen tut sie das schon seit Eröffnung des Bades vor gut 55 Jahren. Wohlwissend, dass ich wenig bis gar nichts verstehe, erklärt sie mir in genuscheltem Russisch die Baderegeln und drückt mir einen Spindschlüssel in die Hand. Gut, den Eingang ins Bad finde ich auch ohne Erklärung, am Beckenrand ist dann aber erstmal Halt. Der Bademeister fängt mich ab. Wo denn meine шапочка sei. Sein Ernst? Ich brauche eine Badekappe? Hab ich nicht. Tja, aber ohne darf ich nicht ins Wasser. Wie praktisch, dass sie im Büro vor den Umkleiden die Gummihauben verkaufen. Ich stehe also triefnass (abgeduscht hatte ich mich ja schon) im Flur an den Spinden und kann zum Glück eine umherlaufende Badangestellte bitten, mir ein Exemplar in die Umkleide zu bringen, damit ich endlich schwimmen kann. Sie kommt mit einer ganzen Auswahl wieder, es gibt unterschiedliche Größen und Farben und alle kosten das Dreifache des Eintrittspreises. Frechheit für so einen Gummilappen. Dafür suche ich mir das hässlichste Modell aus, dass sie im Angebot hat und stapfe als Möchtegern-Totenkopf zurück ins Bad. Meine Bahn teile ich mir mit Mars, "wie der Planet", sagt er stolz, der mich unbeirrt nach jeder Runde am Beckenrand zum Quatschen abfängt. Zu UdSSR-Zeiten war er Oberst, jetzt ist er eigentlich schon Pensionär, betreibt aber ein Hotel am Yssykköl hier in Kirgistan, dem zweitgrößten Gebirgssee der Welt. Dort ist das Wasser jetzt leider schon zu kalt zum Schwimmen. Irgendwann jagt uns alle dann ein Gong aus dem Wasser. Es ist halb zwei, Schichtwechsel - wir müssen Platz machen für neue Badegäste... Wie gut, dass mich Marie, meine Mitbewohnerin, schon vorgewarnt hatte. Etwas schmunzeln muss ich dann aber doch über diesen ungewohnten Umgang mit Badegästen. Marie ist es auch, die mich am Samstag mit nach Issyk- Atta nimmt. Den Namen (wörtliche Übersetzung: Vater Hitze) kenne ich schon von Etiketten auf Mineralwasserflaschen. In dem Gebirgsort in der Tschui-Region etwa 70 km von Bischkek entfernt, entspringen verschiedene heiße Quellen. Das lockte Heilsuchende an und so wurde hier bereits 1891 ein Sanatorium erbaut, das unter der sowjetischen Besatzung des Landes seine Hochzeiten hatte. Im Zweiten Weltkrieg brachte man Soldaten zur Genesung hierher. Noch immer werden Treatments für Knochen- und Muskelkrankheiten angeboten, Esoteriker schwören auf die Kraft der klaren Quellen und auch Opfer der Tschernobyl-Katastrophe lassen ihre Strahlungskrankheiten hier behandeln. Wir wollen einfach wandern und schwimmen. Der Ort ist ein beliebtes Ausflugsziel für Touristen geworden und ganzjährig geöffnet. Als wir insgesamt zu dritt durchs Gelände kraxeln, hoffen wir, den aus Stein gehauenen Buddha zu entdecken, der hier schon seit über 1000 Jahren in den Bergen hockt. Stattdessen begegnen wir einem anderen Kult: Wohl um die Quellen zu verehren säumen den Weg einige Wunschbäume. Eigentlich sollen kleine Tuchstreifen, die in die Äste gehängt werden, Wünsche übertragen. Neu interpretiert flattern hier Plastikfetzen im Wind. Ein irgendwie... trauriger Anblick.
Also auf zum Badebereich, jetzt wollen wir doch auch in das gepriesene Warmwasser abtauchen. Leider ist zu dieser Zeit nur noch der kleine Pool mit Wasser gefüllt und der ist bereits vollgestopft mit Badegästen. Doch das Warten lohnt sich. Israelische Touristen kredenzen uns am Beckenrand Kaffee, den sie auf ihrem Campingkocher aufgesetzt haben, wir schmeißen unsere Kekse in die Runde. Und als endlich Platz im Wasser ist, genießen wir die warme Wonne, die aus den Leitungsrohren auf unsere Rücken rinnt. Ich schließe die Augen und versuche den leichten Schwefelgeruch zu ignorieren, der über die Wasseroberfläche weht.
"Wenn du den Menschen in der Region näher kommen willst, dann fahr mit der Eisenbahn." Den Tipp bekam ich öfter - wenn ich mit Russen oder Deutschen, die schon länger im russischen und zentralasiatischen Raum unterwegs sind über meine Kirgistanpläne sprach. Also gut.
Tag 1: Saft für Saft Auf Gleis vier wartet sie auf mich und viele andere, vollbepackte Mitreisende - eine grüne Lady aus Stahl, elf Waggons lang. Es scheint, als zwinkere sie mir mit einem Scheinwerfer zu, dazu schnaubt sie sanft den Dampf der verbrennenden Kohle in den rötlichen Abendhimmel über Moskau. Im Innern erwartet mich Lektion Nummer eins: Nie wieder oben buchen . Das bedeutet nämlich, dass man keinen Tisch und tagsüber keine vernünftige Sitzmöglichkeit hat. Gut, das hätte ich mir auch vorher denken können. Aber auch Hilfsbereitschaft: Meine beiden männlichen Mitfahrer im Abteil kümmern sich darum, dass mein Koffer in die Gepäckablage über der Tür gewuchtet wird. Später, als wir alle unsere dünnen Bettlaken und ein Handtuch zugeteilt bekommen, verlässt mein unterer Schlafnachbar das Abteil und kommt mit einer dicken Wolldecke wieder, die er mir wortlos nach oben reicht. Danke – obwohl ich mich bei der stehenden Luft im Abteil wirklich nicht noch unter einer dicken Decke ersticken muss. In Russland ist es bei weitem nicht so kalt, wie ich gedacht habe und ich bin ganz froh, dass ich einige meiner Zwiebelhäute im Zug endlich ablegen kann. Da dicke Kleidung zuviel Platz im Koffer wegnimmt, hatte ich alle Schichten an mir. Am nächsten Morgen beginnt die Suche nach Strom. Die scheinbar einzige Steckdose auf dem Gang ist dauerhaft belegt, ich zähle auf den Bistrowagen. Der ist gleich nebenan, darauf hatte ich bei der Buchung geachtet. Saft für Saft, das ist der Deal mit der Bedienung dort. Ich muss ihr eine Packung Granatapfelsaft abkaufen, dafür stöpselt sie meinen Rechner ein. Brav nehme ich also einen Schluck und stecke die Packung dann ein. Kurz darauf bereue ich das Geschäft, als nämlich auf dem Rückweg zum Abteil der Saft aus dem Tetrapack schwappt und meinen neuen Jutebeutel versaut. Hätte es nicht auch Mineralwasser sein können? An der Kohlestelle am Ende des Waggons genehmigt sich der Zugbegleiter ein Kippchen. Am Wasserkessel dahinter, zum Gang hin kann man sich heißes Wasser abzapfen. Sämtliche Instant-Aufguss-Produkte sind also der Renner im Zug und werden an jeder Station aus kleinen Kiosks verkauft. Zum Frühstück gibt es beim fürsorglichen Schlafnachbarn von unten - ich schätze ihn auf Mitte 60 - eine Instantsuppe. Wir sind und bleiben zu dritt im Abteil, die zweite obere Schlafstätte bleibt leer. Als mir später am Tag der andere Mitfahrer eins seiner Nescafé-Tütchen anbietet, winke ich erst ab. Es scheitert am Becher, mache ich ihm begreiflich – da verschwindet er kurz und kommt mit einem Teeglas in silbriger Thermohalterung wieder. Die gibt´s offensichtlich im Speisewaggon, denn seines sieht genauso aus. Also gieße ich mir eine 3-in-1-Kaffeespezialität auf und komme mit den beiden ins Schwatzen. Mein Kaffeeheld stellt sich als Polizist heraus, ursprünglich aus der Nähe von Jekaterinenburg, der berufsbedingt zwischen Moskau und Baikonur pendelt. Die kasachische Stadt ist vor allem für den Kosmodrom bekannt, den weltweit größten Raumfahrtbahnhof, von dem seit Sowjetzeiten die russischen Weltraummissionen abgehen. Stolz zeigt er mir auf dem Handy das Foto eines Raketenstarts. Ein bis zweimal pro Monat fährt er die Strecke. Ruslan, so heißt er, ist ein schlächtiger Typ mit geschorenem Kopf. Doch sein volles Gesicht birgt noch junge Züge, er wird Anfang zwanzig sein. Meine Überlegung, ob er vielleicht MMA-Kämpfer ist, verwerfe ich, als er mir das Buch reicht, in dem er die Fahrt über schmökert – Dante, eine Gedichtsammlung. Unter mir liegt Ludovik, ein pensioniert Offizier, der zu UdSSR-Zeiten in Deutschland stationiert war. Magdeburg, Potsam, zählt er auf. Deutsch spricht er aber nicht mehr. Nach unserem Gespräch fühle ich ich gut aufgehoben im Abteil - und bin froh, dass keiner der beiden schnarcht.
Die erste Zugetappe geht durch Russland
Tag 2: Anziehen, hinstellen
Der Tag beginnt für mich zum ersten Mal, als um 1.33 Uhr in Iletsk russische Grenzkontrolleure die Tür aufreißen und uns aus dem Bett brüllen. Verpennt, aber brav setzen wir uns unten auf die Liegen und warten darauf, einzeln vor den befehlshabenden Beamten zu treten. Beim Blick in sein starres, ernstes Gesicht wird mir dann doch mulmig. Ich habe gar nicht genügend Rubel dabei, um ihn zu bestechen, schießt es mir durch den Kopf. Meine Kontrolle dauert etwa dreimal so lang wie die der anderen, aber ich bekomme den Stempel für die Ausreise. Kaum erkennbar ist eine kleine Lok im Rand des Stempelmotivs versteckt. Das zweite Mal beginnt der Tag etwa anderthalb Stunden und zwei Stationen später, als kasachische Kontrolleure gegen die Abteiltür bollern. Diesmal ist es eine Frau, die nicht weniger streng dreinblickt und meinen Pass erstmal mit auf Reise durch den Zug nimmt. Nach zähem Warten kommt er gestempelt und mit einer Zollerklärung versehen zu mir zurück, ich kann beruhigt weiter schlafen. Als ich wieder aufwache, hat sich die Landschaft hinter dem Fenster deutlich verändert. Statt auf verregnete Birkenwälder blicke ich nun in die Weite der kasachischen Steppe, die unter der Sonne rot-golden schimmert und so ihrer Kargheit einen gewissen Charme verleiht. Beim Frühstück bemerke ich die vielen fliegenden Händler/innen an Bord. Meine Angst vor Unterversorgung war völlig unberechtigt. Das Angebot reicht von Kosmetika und Schmuck über Tücher und Jogginghosen bis hin zu Gadgets wie Fidget Spinner, Selfie Sticks und Power Banks. Am begehrtesten scheinen aber die geräucherten Fische, die ältere Frauen an aufgehängt an kleinen Holzstöckchen durch die Gänge tragen und selbstgekochte Manti, also kleine gefüllte Teigtaschen, die sie – noch warm – aus riesigen Plastikschüsseln hinaus verkaufen. Mein Highlight beim Blick aus dem Fenster: Freilebende Kamele.
Tag 3: Man kennt sich
Mit der Privatsphäre im Zug ist es so eine Sache. Wenn man drei Tage bei meist geöffneter Abteiltür mit völlig fremden Menschen verbringt, ist sie de facto nicht vorhanden. Die Möglichkeiten, sich einen Raum für sich zu schaffen, sind rar. Man kann sein Gesicht hinter einem Buch oder dem Handy verbergen, die Ohren mit Musik verstöpseln oder sich schlafen legen. Nichts davon hält aber andere Mitfahrer wirklich davon ab, Kontakt mit dir aufzunehmen. Und so richtig möchte hier auch keiner für sich sein. Denn was gibt es langweiligeres, als sich ohne Bewegung und Ablenkung einzukapseln, wenn man doch so viele Menschen um sich hat, die man beobachten, mit denen man sich unterhalten kann?! So wächst die Zugbevölkerung zu einem Mikrokosmos heran, eine temporäre Gemeinschaft, die das beste aus der Fahrt macht. In der Nacht verabschiede ich mich von Ludovik und Ruslan. Als ich am Morgen aufwache, haben zwei andere Übernachuntsgäste ihre Liegen gekapert. Zurück bleiben einige Päckchen Nescafé auf dem kleinen Tischchen – und ein lieber Gruß, versteckt unter dem Teeglas. Im Speisewaggon hat sich die Bedienung gemerkt, dass ich den Kaffee ohne Zucker trinke und lächelt mich mittlerweile an. Und noch etwas scheint sich herumgesprochen zu haben: Irgendwann steckt der Zugbegleiter seinen Kopf in mein Abteil. Ob ich etwas von Notebooks verstünde? Ich schmunzel innerlich. Achso, weil ich selbst einen Laptop besitze, habe ich auch Ahnung davon. Fast schon logisch. Ich taper ihm hinterher und finde mich zwischen drei aufgeregten Männern wieder, die hilflos auf einen Laptop deuten, der sich offensichtlich aufgehängt hat. Die Fehlermeldung ist auf englisch, das scheint der Knackpunkt zu sein. Ich zähle auf einen Neustart, damit sich der Rechner erholt. Dann aber scheitert es am Passwort bzw. der Kombi mit dem Nutzernamen. Egal, welche Variante wir probieren – Azizas Rechner bleibt gesperrt. Schade, ich dampfe unverrichteter Dinge wieder ab. Auf dem Gang gabelt mich irgendwann Maksid auf. Er war wohl schon in meinem Abteil, aber da habe ich habe geschlafen. Ich solle doch einen Kaffee mit ihm trinken. Ich biete ihm eins meiner Päckchen an, aber nein – er möchte mich im Speisewaggon einladen. Er ist tadschikischer Bauer und zeigt mir die vielen Stempel in seinem Pass, sogar mit dem Flugzeug ist er schon gereist. So richtig entspannen kann ich mich nicht. Meine deutsche Skepsis meldet sich: Und wenn das nur Masche ist? Als ich mein Vokabelheftchen aus dem Abteil hole, checke ich meine Wertsachen. Alles noch da. Er will wirklich nur quatschen. Beim nächsten Halt nehme ich meine Tasche trotzdem mit. Am Bahnhof in Schymkent nehme ich sie trotzdem mit. Auch wenn ich nicht mal Geld brauche. Maksid möchte mir weiter Gutes tun, ich nehme also ein Kilo Birnen entgegen und zwei Erdbeer-Bananen-Joghurts. Zum Schluss drückt er mir noch 100 tadschikische Somoni in die Hand, umgerechnet knapp zehn Euro – den Schein solle ich in Berlin rumzeigen. Am Nachmittag kommt Maxid zu mir ins Abteil, das ich mittlerweile für mich habe. Er hat auch Lust auf Quatschen und lädt mich zu sich ins Nachbarabteil auf einen Tee ein. Dazu gibt es Lepjoschka, kirgisisches Brot in Form eines Kringels, das in Lehmöfen gebacken wird, Aprikosenaufstrich und hart gekochte Eier. Sogar Salz hat er einem kleinen Plastikröhrchen dabei. Nur die Wurst lehne ich dankend ab. Вегетариа́нка, das russische Wort für Vegetarierin, habe ich früh gelernt. Maxid ist 33 Jahre alt und arbeitet als Obsthändler auf dem Oschbasar in Bishkek. Die Geschäfte scheinen gut zu laufen, beim Sprechen blitzen mir vier Goldkronen auf der oberen Zahnleiste entgegen. Doch dann zieht er hinter dem Vorhang ein zweites Röhrchen hervor. Die kleinen grünen Kügelchen darin, Kautabak aus Usbekistan, lassen ihn für zehn Minuten seine Sorgen vergessen. Mit einem traurigen Lächeln kippt er einen Satz hinunter. Als ich ahne, dass die Wirkung einsetzt, lasse ich ihm den Rausch und genieße von meiner Liege aus die immer bergiger werdenden Landschaft Kasachstans. Mein Abteil ist immer mal Flurgespräch, hier und da höre ich Gemurmel über die "Njemka", die Deutsche. Ich fühle mich irgendwie exotisch, aber nicht unangenehm. Offenbar hat es die Runde gemacht, dass bei mir im Abteil noch zwei fertig bezogene Liegen frei sind. Denn als ich nach einem kurzen Gang über den Flur zurückkomme, haben es sich dort zwei Bedienungen aus dem Speisewaggon gemütlich gemacht. Sie haben Feierabend und schlummern selig ein. Die ersten Schnarchgeräusche werden laut. Als erneut die Grenzkontrollen losgehen, bin ich wieder allein im Abteil. Auf kasachischer Seite blinzel ich kurz in eine Augenkamera, die Kontrollen verlaufen auch hier mittlerweile elektronisch. Am freundlichsten erscheinen mir die kirgisischen Grenzbeamten – obwohl sie den größten Grund zur Skepsis haben. Schließlich kann ich nicht mal sagen, wann genau ich ihr Land wieder verlasse. Sie aber scheinen sich einfach über eine interessierte Touristin zu freuen und begrüßen mich um kurz nach halb 12 mit "Welcome to Kyrgyzstan" – und einem Stempel. Damit ich sicher ankomme, hatte Samat schon am Abend Alina aus dem Abteil rechts neben mir beauftragt, mir in Bishkek ein Taxi per Telefon zu rufen. Das ist sicherer, als am Bahnhof zu den winkenden Männern ins Auto zu steigen. Alina dürfte etwa so alt sein wie ich, lebt in Bishkek und teilt sich mit mir die Fahrt. Mein Ziel scheint auf ihrem Weg zu liegen, oder sie will einfach ganz sichergehen, dass ich gut ankomme. Schließlich ist es mittlerweile zwei Uhr nachts. Mit meiner letzten SMS hatte ich die genaue Wegbeschreibung zur Wohnung anfordern können, jetzt ist mein Guthaben leer. Das Apartment finde ich schnell, jetzt drücke ich die Daumen, dass einer meiner zukünftigen Mitbewohner einen leichten Schlaft hat. Als ich nach mehrmaligem Klingeln und einigen Minuten warten immer noch draußen stehe, beginne ich nach einem geschützten Platz zum Schlafen im Hof Ausschau zu halten. So kalt ist es ja gar nicht. Dann aber höre ich das Türsummen. Ich wuchte meinen Koffer die Treppe hinauf und werde von Marie empfangen, die zwar kaum die Augen aufbekommt, mich aber trotzdem anlächelt und hereinlässt. |
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