Aha. Es kommt also doch noch was. Jip. Ein letzter Lebenshauch auf diesem Blog, der genau wie meine Zeit in Kuala Lumpur dem Ende entgegenblickt.
Jetzt könnte ich ein Fazit ziehen, ich weiß. Rückblicken, sinnieren, zusammenfassen. Das macht man doch so kurz vorm Ende. Ich bleibe aber lieber in der Gegenwart. Plauderthema Wetter: Gerne möchte ich behaupten, dass auch hier der Frühling ausgebrochen ist, über den sich im Moment alle zu freuen scheinen. Sonne, Energie, Tatendrang-ab nach draußen! Allerdings ist das Wetter hier keinen Deut anders als im Dezember bei meiner Ankunft. Nicht heißer, nicht kälter, nicht mehr oder weniger Regen. Hier ist es das ganze Jahr über gleich. Gleich heiß, gleich schwül, gleich gewittrig. Das hat den Vorteil, dass man immer sagen kann: „Also, bei mir ist es ja Sommer!“ Und den Nachteil, dass eben immer Sommer ist. Denn was macht das Leben so spannend? Veränderung, überraschende Wendungen, Abwechslung. Sehnsüchtig an kalten, dunklen Winterabenden den ersten warmen Sonnenstrahlen entgegenfiebern, immer wieder Ausschau nach dem ersten Krokuskopf irgendwo am Wegesrand halten. Die Leichtigkeit spüren, wenn man plötzlich wieder ohne Jacke vor die Tür gehen kann. Freie Tage an der frischen Luft verbringen und warme Schauer Lebendigkeit in den Körper rieseln lassen. Bunte Blätter mit einem lauten Rascheln zerstapfen. Sich freuen, wenn man irgendwann nicht mehr vor die Tür muss, sondern sich mit einem heißen Tee zu Hause verkriechen und den Tag zu Ende sein lassen kann. Ich bin ein großer Fan von Jahreszeiten. Ich verdamme den Sommer nicht, aber ich begrüße und verabschiede ihn auch gern. Ebenso wie Herbst, Winter und Frühling. Ich schätze es, wenn sich meine Umgebung verändert. Das inspiriert - und es schützt vor Gleichmut. Der Blick für das Besondere geht leicht verloren, wenn alles immer gleich hell, gleich grün, gleich imposant ist. Denn - wie abgefahren: Hier ist ein Dschungel mitten in der Großstadt! Ich trete vor die Tür und höre Vogelstimmen aus den Palmen, die ich sonst nur aus CNN-Naturdokus kenne. Überhaupt: Palmen, überall! Sie brechen aus den Bürgersteigen und bedachen den Gehweg. Über Affen wunder ich mich schon gar nicht mehr. Freilebend! Ich muss hier in keinen Zoo fahren und Käfigtiere anschauen. Ananas wachsen hier in den Vorgärten und Lianen baumeln mir auf dem Weg zur U-Bahn entgegen. Dahinter glitzern die Petronas Towers in ihrer silbrigen Erhabenheit über die Skyline der Stadt. Ich bin privilegiert, hier zu sein. Und weiß schon jetzt: Wenn ich wieder in Berlin bin, werde ich zurückblicken und denken: Wow, was für eine abgefahrene Zeit.
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„Was isst man denn so in Malaysia?“ In einem Land, in dem es noch Dschungel gibt, muss das Essen doch exotisch sein. Den Mittagstisch dominieren Hühnchen und Reis. Und Hühnchen mit Reis. Wer was wagen will, nimmt Reis mit Hühnchen. Unter den Arbeitskollegen ist es der Running Gag. „Na, was essen wir heute? - Hm. Vielleicht... Chicken and Rice?“ Ich hab im Bürogebäude den Salatmann meines Vertrauens und bin fein raus. Tatsächlich aber öffnen sich hier schon auch außergewöhnliche kulinarische Türen, wenn man die Kantinen und westlichen Cafés verlässt - und sich vor allem auf Märkten rumtreibt. Wet Market heißt es in Asien, wenn ein Markt frische Produkte anbietet und das kühlende Eis aber leider so schnell wegschmilzt, dass der Boden eine einzige Wasserlache ist. Hier lohnen sich Gummistiefel, zumal sich die Pfützen mit dem Blut der ausgenommenen Tiere mischen und die Rückstände an den Schuhen doch sehr unangenehm sein können. Am Wochenende war ich auf dem Chow Kit Market, den auch Malayen für ihre Wochenendeinkäufe nutzen. Mein Arbeitskollege muss Zutaten für sein Partybuffet am Abend kaufen, also glitschen wir uns zunächst durch die Fisch- und Fleischabteilung, die am Eingang des Markts liegt. Und wundern uns über drei lebende Welse, die sich ganz ohne Wasser in einer Plastikschale winden. Käufer sind weit und breit nicht in Sicht. Da habens die tiefgekühlten Garnelen daneben irgendwie besser. Im Vergleich zu den zentralasiatischen Basaren sind die Gänge hier vollgestopfter, alles wirkt etwas chaotischer und es fehlen die Berge an Nüssen und Trockenfrüchten. Die frischen Früchte aber sind paradiesisch. Was bei uns nur in ausgewählten Feinkostabteilungen zu horrenden Preisen angeboten wird, gehört hier zum täglichen Vitaminschub: Drachenfrucht, Mangosteen und Jackfruit sind meine Highlights. Die letzten beiden Früchte habe ich hier das erste Mal gegessen. Beide verbunden mit wunderbarer Ahnungslosigkeit, wie man sie überhaupt isst. Denn meine Taktik, mich mit unbekanntem Obst vertraut zu machen, besteht darin, dass ich jedes Mal, wenn ich bei meinem Fruchthändler hier im Viertel bin, ein Produkt kaufe, das ich noch nie gesehen habe und dessen Namen ich nicht kenne. Googlen gilt nicht! Ich genieße ich es, das virtuelle Wissen zu ignorieren und mich ganz unbedarft den exotischen Köstlichkeiten zu nähern. Das weckt den Entdeckergeist und macht sogar schnödes Obstessen zum Erlebnis. Los ging es mit der Mangosteen, als Pendant zur stinkenden Durian (König der Früchte) übrigens die Königin der Früchte genannt. Sie kommt als kleine, bräunliche Kugel mit zwei strunkartigen Blättern obendrauf daher. Nichtsahnend gekauft, frage ich mich zu Hause - muss ich die jetzt schälen? Oder kann ich die aufschneiden, ohne den essbaren Teil zu zerstören? Sind da vielleicht unkaputtbare Kerne wie in einer Avocado drin? Ich ritze erstmal vorsichtig die Schale an. Sie ist etwa 3mm dick und gibt leicht nach. Ich luge hinein und entdecke weißes Fruchtfleisch wie bei einer Litschi. Also entscheide ich mich dafür, die Frucht aufzubrechen. In der unteren Hälfte bleiben sechs kleine Segmente haften, von der Größe etwa wie Mandarinenstückchen, eher noch kleiner; durch das weiße Äußere schimmert ein brauner Kern. Ich pule sie einzeln raus und lutsche das süßliche Fruchtfleisch runter. Ganz schön mühsam, aber lecker! Säuerlich, frisch, ganz mein Geschmack. Zu dem Zeitpunkt hatte ich schon den Namen wieder vergessen, lasse mich aber am nächsten Tag von meinen malaiischen Arbeitskollegen aufklären, dass es eine Mangosteen war. Jetzt kann ich auch mal googlen - und stelle fest, dass ich die Kerne hätte mitessen können! Als mir auf dem Markt also ein Händler eine aufgebrochene Frucht entgegenstreckt, damit ich mich von der Qualität überzeugen kann, zerkaue ich vorsichtig das ganze Stückchen im Mund. Tatsächlich, die Kerne sind so weich, die gehen glatt unter. Die landet nochmal im meinem Einkaufsbeutel. Die Jackfruit (hab leider kein eigenes Bild) kauft man bereits verzehrfertig. So oft ich mich über foliertes Obst in Plastikschalen aufrege (MANDARINEN! Man kann hier abgepackte Mandarinenfilets kaufen. DIE HABEN EINE NATÜRLICHE VERPACKUNG!), bei Jackfruit drücke ich ein Auge zu. Die gigantische Frucht von der Größe eines Basketballs ist schwierig auszunehmen. Die Schale ist dick und stachelig, die Fruchtstücke müssen herausgepult und gesäubert werden. Die Mühe machen sich auch die Malayen nicht, niemand kauft eine ganze Frucht. Eine Portion besteht aus maximal acht Stückchen. Die dunkelgelben Filets haben eine fast ledrige Oberfläche und saften auch beim Essen nicht. Der Geschmack ist herb, für eine Frucht eher ungewöhnlich, aber mir gefällts. Den länglichen Kern im Inneren kann man nicht mitessen. Weil die Frucht auch intensiv und eher herb riecht, sollte man die offene Packung nicht zu lange im Kühlschrank lassen, sonst riecht alles danach. Jackfruit ist quasi der Käse unter den Fruchtsorten hier...
Und die Drachenfrucht ist zwar ein unhandlicher Snack, aber dafür ziemlich lässig: Sie lässt sich einfach aus der Schale löffeln, die melonenartige Konsistenz und die Stracciatella-Optik sorgen dafür, dass man bei gekühlten Früchten das Gefühl hat, ein Eis zu essen. Ansonsten landet noch regelmäßig Passionsfrucht in meinem Müsli, die ich in Deutschland bisher glaube ich nur getarnt als Split-Eis konsumiert habe. Luxus! Leider habe ich in meinem Obst- und Gemüserausch am Wochenende vergessen, dass ich ab morgen auf einwöchiger Drehreise bin. Also werde ich vor dem Abflug meine Fundstücke im Büro verschenken müssen.
Diese Hitze. 32 Grad im Dezember. Jeder Schritt drückt einen weiteren Schweißtropfen aus der Stirn, unaufhörlich. Was finden Menschen so geil daran, ihren Winter in Äquatornähe zu verbringen? Ich will Kälte! Schnee! Mich bei jedem Schritt lebendig fühlen und nicht wie auf Samtpfoten von einer klimatisierten Räumlichkeit zur nächsten tapsen.
Ich jammer auf hohem Niveau. Genauer gesagt, auf dem 28. Stock. Denn hier wohne ich seit Anfang Dezember und werde auch die Festtage verbringen. Steigt mir die Hitze zu Kopf, steht mir ein Infinitypool zur Verfügung oder meine Regendusche im Marmorbad. Auf der Dachterrasse im 38. Stock kann ich lässig über die Skyline von KL schauen, die weiteren Aufenthaltsräume unserer Appartementanlage bieten Platz zum Billardspielen, Kickern, Grillen und ein Fitnessstudio. Die Sauna halte ich für übertrieben. Zugegeben: Ich habe ausreichend Ausgleich für meinen Wintermangel – dazu nette Kollegen, mit denen man auch gerne außerhalb des Büros abhängt. Ich genieße also die Zeit hier und muss sagen, dass der ganze Luxus auch ein bisschen cool ist. Der Trip hierher war ein Wechselbad der Gefühle. In Bischkek gings bei - für Anfang Dezember milden - Temperaturen nach Almaty in Kasachstan. Hier war es schon richtig winterlich und verschneit. Da hatte Martin, mein Mitreisender die Idee, Schlittschuhlaufen zu gehen. Am Samstag schlitterte ich also, eingekesselt von Bergen auf 2500 Metern Höhe im Medeu-Stadion übers Eis. Man sieht zwar die Hand vor Augen nicht, weil alles im Nebel liegt, aber das erhöht den Spaßfaktor. Noch kann ich mir nicht vorstellen, dass ich bald in der Wärme bin, doch exakt 24 Stunden später ziehe ich mit meiner neuen Mitbewohnerin Tabea Bahnen durch unseren Pool. Da ich über Nacht geflogen bin, ging alles so schnell, dass ich mich wie hergeschnipst fühle und muss noch mehrmals den Kopf schütteln. Wie bin ich hierhergekommen? Kuala Lumpur ist ein totaler Schmelztiegel, neben Malayen machen Inder und Chinesen die Mehrheit der Bevölkerung aus. Jede Minderheit hat ihr eigenes Viertel und die Küchen in der Stadt sind dementsprechend vielfältig. Am zweiten Tag wage ich den Biss in eine Durian, die heimische Stinkfrucht. Ein Erlebnis, aber irgendwie kein richtig gutes. Sie schmeckt zwar nicht so schlimm wie sie riecht und hat eine abgefahrene Konsistenz irgendwo zwischen Artischockenherz und Litschi, aber sie hält sich hartnäckig lange im Magen und schickt regelmäßig Grüße nach oben. Schlimmer als Knobi, da kann man draufkippen, was man möchte. Ich lasse mich davon aber nicht abschrecken und probiere mich weiter fleißig durch die exotischen Früchte, an die in Kirgistan nicht zu denken war. Litischis gibt es hier in verschiedenen Varianten, mein Favourite trägt einen rosafarbenen Stachelpelz. Morgens kratze ich mir genüsslich Passionsfrucht ins Müsli, zum Nachtisch beim Lunch gibts Drachenfrucht. Als malayisches Essen habe ich Nasi Lemak für mich entdeckt, zu deutsch: Fetter Reis. Der heißt so, weil er in Kokosmilch gekocht wird. Dazu gibts scharfe Chilipaste, Ei und Gurke, meistens noch kleine Sardellen. Zu einer Pyramide gepresst und in Papier gewickelt kann man Nasi Lemak vor allem morgens überall am Straßenrand kaufen. Für meinen Magen ist es als Frühstück zu heftig, zur Mittagszeit die perfekte Mahlzeit. Beim Essengehen vertraue ich auf Kellys Geschmack – die chinesische Kollegin sucht für uns alle aus, wenn wir (wie eigentlich immer) im chinesischen Restaurant landen.
Ein Stück Berliner Luft kommt mit Klaudia rangeweht, meiner Nachbarin aus der Torfstraße, die noch bis Januar durch Malaysia tript und einen Zwischenstopp in KL eingelegt hat. Mit ihr schaffe ich es nach zwei Wochen endlich mal zu den Petronas Towers, DEM Markenzeichen der Stadt. Die bunte Wassershow am Platz davor ist ganz cool, optisches Highlight des Abends wird aber der neue Star Wars Film. Im Kino lerne ich auch, dass eine Fleecejacke absolut nicht übertrieben ist und freue mich, als Klaudia mir ihren Schal abgibt, damit ich bei gefühlten sechs Grad wenigstens die freien Arme zudecken kann. Da hab ich sie, meine Kälte. Leider nur die Klimaanlage.
Das Kino liegt natürlich in einem Einkaufszentrum, das Herz eines JEDEN Viertels der Stadt, die in den letzten zehn Jahren völlig zugebaut wurde. Die Stadtplaner hielten es offenbar für angemessen, mehr Shoppingmöglichkeiten zu schaffen als es Einwohner gibt. Man weiß ja nie, wann die Bevölkerung explodiert. Beim Schlendern sind die Konsumtempel oft eine willkommene Oase der Kühle, aber ich wunder mich schon, warum eine überwiegend islamisch geprägte Gesellschaft riiiesige Weihnachtsmannschlitten, Tannenbäume und glitzernde Rentierfiguren derart abfeiert. Die Malls sind immer proppenvoll, die Familien stehen Schlange an den Weihnachtsattraktionen, bei denen man Fotos machen kann – wahrscheinlich gibts auch was zu gewinnen. Die Weihnachtseuphorie ist hier also nur eine Ausgeburt des Kapitalismus. Dennoch setzt Malaysia ein schönes Zeichen in Sachen religiöser Integration: Sämtliche Feiertage sind für alle da, muslimische, christliche wie hinduistische. Montag hat hier also alles geschlossen. Das – wie ich finde – Gute daran: Man freut sich über die Auszeit und macht sich gleichzeitig schlau, womit man sich den freien Tag verdient hat. Das schafft Bewusstsein für die anderen Kulturen. Im Optimalfall. Generell begegnen mir hier meist aufgeschlossene Menschen, die sich aufrichtig dafür interessieren, wo man herkommt und was man macht. Nach meiner Zeit in Kirgistan muss ich mich fast schon daran gewöhnen, dass der Smalltalk mit den Taxi(hier: Grab-)fahrern über „Bist du verheiratet? Hast du Kinder?“ hinausgeht und sogar richtig nette Gespräche entstehen. Und das nicht nur, weil hier eigentlich alle englisch sprechen.
Gerade sitze ich auf meiner Dachterrasse. Von links ruft der Muezzin zum Gebet, rechts wabert „Last Christmas“ von einer britischen Grillgesellschaft aus dem Haus herüber, vor mir nutzen Bauarbeiter die Kühle des Abends und presslufthämmern unermüdlich an einem neuen Wohnkomplex. So rechte Weihnachtsstimmung will nicht aufkommen. Obwohl wir am Freitag auf der Arbeit sogar gewichtelt und auf unsere Monitorwand die digitale Aussicht durch ein verschneites Fenster gezaubert haben. Viel anrührender: Die beiden russischen Kollegen kamen am Mittag mit einem Riesentopf selbst gekochten Borschtsch herein, Weihnachtslunch für alle. Dabei ist ihr russisch-orthodoxes Fest erst im Januar... Doch für mich bleibt die Erkenntnis: Weihnachten gehört hier nicht hin. Das ist auch gar nicht schlimm. Ich weiß ja, wo ich es finden kann. Und besinnlich werde ich trotzdem. Ich genieße die Ruhe, wenn fast alle Kollegen ausgeflogen sind und lasse das abenteuerliche Jahr sacken.
Frohe Weihnachten! Zwei Tage bevor meine Zeit in Kirgistan vorbei ist, will es sich das Land mit mir verscherzen. Ich freue mich auf eine gemütliche Schlendertour über den Oschbasar, um nach Mitbringseln Ausschau zu halten und einen Nussvorrat anzulegen. Dann der Klassiker: Kurz hinter dem Haupteingang rempelt mich ein Typ von hinten an, obwohl nicht mal großes Gedränge herrscht. Zwei Minuten später stelle ich am Gemüsestand fest: Er hat dabei galant das Mini-Portemonnaie aus meiner rechten Manteltasche gezogen, dass ich sonst immer beim Schlendern dort umklammert halte. In der Sekunde eben nicht. Na toll. Zahlen kann ich zwar noch, weil der Hauptteil des Geldes im anderen, großen Portemonnaie ist, aber um Perso, Kredit- und Versicherungskarte ist es trotzdem mehr als ärgerlich. Frustriert fahre ich nach Hause und drehe mir mit der Kreditkartensperre den einzigen Geldhahn im Ausland zu. Am Abend bekomme ich von einer kirgisischen Bekannten den Tipp, doch mal zur Polizeistation am Basar zu gehen. Die kennen dort ihre Pappenheimer und wenn man nachdrücklich verklickert, dass der Inhalt (abgesehen vom Geld) bzw. das Portemonnaie gaaaaanz wichtig ist und einen Erinnerungswert hat, taucht es schonmal wieder auf – ohne Geld drin natürlich. So geschehen bei einem Bekannten. Also begleitet mich Folke, ein deutscher Kollege, der sehr gut Russisch spricht, am nächsten Morgen zum Basar. Die Polizeistation entpuppt sich als Container, in dem vier Beamte hocken, die versuchen, schwer beschäftigt zu wirken. Beim seitlichen Blick auf den Röhrenmonitor des Typen rechts außen, wird klar, warum er so angestrengt dreinblickt: Er spielt Solitaire. Ein anderer ist gerade dabei, einen Bericht handschriftlich zu kopieren. Kompetenz sieht für mich irgendwie anders aus. Die erste Frage, als wir den Verlust melden: „Wieviel Geld war drin?“ Weiß ich nicht, ist auch egal, die Karten!!! Das Geld ist wurscht. Ich zähle auf, was ich dringend wieder brauche. Unser Mann, Ruslan, macht auf schwer investigativ und bittet uns, ihm den Tatort zu zeigen. Am Haupteingang angekommen male ich also einen Halbkreis in den breiten Gang dahinter. „Hier, in der Gegend.“ Genauer kann ich es nicht eingrenzen. Ich hatte ihm schon erklärt, dass ich angerempelt und vermutlich dabei beklaut wurde. Ob ich ein Foto vom Dieb habe? Ja klar, denke ich mir – wenn ich merke, dass mir etwas geklaut wird, ist die erste Reaktion, das Handy rauszuholen, um ein Foto zu machen. „Öhm, nein, ich habe leider kein Foto.“ Hmm. Ob ich den Mann beschreiben kann? Tja, schwierig. Ich will nicht rassistisch sein, aber im Gedränge sehen alle Männer mit ihren dunklen kurzen Haaren und den asiatischen Gesichtszügen ziemlich ähnlich aus. Und dass der Rempler ein Dieb war, ist mir ja erst später aufgefallen. Doch ich nehme zur Kenntnis, dass der Polizist offenbar bemüht und professionell wirken möchte. Auch wenn Folke und ich schon schmunzeln müssen, erklären wir ihm geduldig, dass es ja alles ganz schnell ging. Wir sollen ihm also wieder in den Container folgen. Ein unsinniger Ausflug, denke ich erst. Dann überlege ich, ob der Oschbasar vielleicht in Jagdreviere unter den Ganoven eingeteilt ist. Im Büro darf ich auf ein leeres DIN-A4-Blatt meinen Namen, meine Adresse und eine Telefonnummer schreiben. Plötzlich zieht unser Polizist ein Zweithandy aus seiner Hosentasche, ein Smartphone, mit dem er den Zettel abfotografiert. Als ich sehe, wie sein Finger auf das Whats-App-Symbol tippt, muss ich mich zusammenreißen, nicht zu lachen. Innerlich formuliere ich grad die Nachricht, die er dem Foto anhängt: Jo Leude, die deutsche Touristin von gestern-die braucht echt ihre Karten wieder. Kohle können wir aufteilen, aber bringt ihr mir den Rest eben vorbei? Wir sind entlassen, als Rückrufnummer hat er sich Folkes notiert. Der schickt mir wenige Stunden später dieses Foto: Na sieh mal einer an. So schnell kanns gehen. Leider bleibt mein geliebtes Lederetui aus Amsterdam verschollen. Aber als Folke nach dem Anruf, er könne was an der Polizeistation abholen, wieder zum Oschbasar fährt, nimmt ihn Ruslan am Arm, geht diskret mit ihm vor die Containertür und drückt ihm alle meine Karten in die Hand. Einfach so.
Vor lauter Glück gönne ich mir und meinen Karten am nächsten ein neues Portemonnaie und habe mit dem Filztäschchen eine schöner Erinnerung an Kirgistan. Und was bringe ich fertig? Lasse es genau zwei Stunden später auf einer Ladentheke liegen. Zwar ist diesmal nur der Perso drin und meine Kreditkarte in Sicherheit. Aber wie kann ich bitte derart ein Glück aufs Spiel setzen? Weil ich den Verlust erst abends bemerken, muss ich bis kurz vor meiner Abfahrt aus Bischkek darauf warten, dass der koreanische Kramladen um die Ecke öffnet. Es wird noch gewischt, als mit fragend-bittendem Blick das Geschäft betrete. „Ah, haben Sie gestern ihr Portemonnaie hier liegengelassen?“ Ja, hab ich. Glück im Quadrat, alles wieder da. ... braucht es, um unsere kleine Reisegruppe über den 3400 Meter hohen Tuz-Ashuu-Pass zum Gebirgssee Songköl zu bringen. Doch von Anfang an. Ich war nie ein Pferdemädchen, aber ja, ich habe mich für einen Reitausflug in die Berge angemeldet. Hier in Kirgistan ist es nur sinnvoll und in ländlichen Gegenden unumgänglich, sich aufs Pferd zu schwingen. Ich behaupte sogar, ohne einen Ausritt hat man Kirgistan nicht richtig erlebt. Das will ich mir natürlich nicht vorwerfen lassen und außerdem den zweitgrößten Gebirgssee des Landes in winterlicher Pracht sehen. Wir sind Pioniere, denn der See wird eigentlich nur im Sommer bereist. Ab Mai ziehen die (Halb-)Nomaden mit ihren Tieren hierher und lassen sie bis zum Spätsommer die saftigen Weiden rundherum abgrasen. Dann bauen sie ihre Jurten ab und verbringen den Rest des Jahres in ihren Häusern auf dem Land oder in der Stadt. Dieses Relikt kirgisischer Frühkultur lockt die immer größer werdenden Touristenströme in dieser Zeit her. Die gastfreundlichen Kirgisen beherbergen sie gerne in ihren Jurten, doch auch eigens eingerichtete Camps entstehen rund um den See, um das Nomadenflair erlebbar zu machen. Die sommerliche Übervölkerung geht leider auf Kosten des Weidelandes, das von immer mehr Herden weggefressen wird – denn natürlich wittern viele ein Geschäft im Tourismus und ziehen plötzlich auch mit ihren Tieren hierher. Immerhin hat die Natur rund um den See nun ein paar Monate Zeit, sich zu erholen. Für uns beginnt der Trip mit einer Busfahrt ab Bischkek. Ich stoße als Letzte zur Gruppe und kann es mir neben dem Fahrer gemütlich machen. Die Herkunft meiner Mitreisenden kann ich nur an den Akzenten festmachen, es wird englisch gesprochen. Als mich aber bei Stopp an der Tankstelle jemand mit „All good?!“ (Betonung: ohl gutt) auf meine Dehnübungen anspricht, bin ich sicher: Das muss ein Landsmann sein. Tatsächlich kommt Richard aus München. Und auch mit zwei Schweizer Mädels an Bord kann ich hin und wieder deutsch sprechen. Die anderen beiden kommen aus Kanada und den USA, unser Gruppenleiter Fabienne ist Franzose. Eine gute Mischung also. Spät kommen wir im Dorf Kysart an und beziehen schnell unser Nachtlager im Gästehaus von Mira. Morgen geht es früh raus... Frittiertes Brot, Trockenfrüchte und Marmelade stärken uns für den ersten Tag. Die Pferde stehen vor der Haustür bereit, doch zum Fuß des Passes reiten die „Horseboys“ sie, wir sollen mit dem Auto dorthin kommen und dann die Zügel übernehmen. Dick eingemummelt warten wir auf den Fahrer, dann die Nachricht: Dessen Wagen will bei der Kälte nicht anspringen. Typisch kirgisisch braucht es nur ein paar Telefonanrufe, dann stehen zwei Fahrer mit kleineren Autos zur Verfügung, die uns kutschieren können. Doch auch hier kommt eine Reifenpanne dazwischen. Schlussendlich aber haben alle einen Platz und die Fahrt geht los. Die Pferde sind natürlich schon längst da, mit dem Auto dauert die 20 km lange Fahrt durch die Dörfer eine Dreiviertelstunde. Es ist Zeit, mich als „bloody beginner“ zu outen, als die Pferde verteilt werden. Tatsächlich beschränkt sich meine Reiterfahrung darauf, dass ich mit etwa acht Jahren mal eine Purzelbaum von einem Voltigierpferd machen durfte und einige Ausritte, bei denen mein Pferd überwiegend an der Leine geführt wurde - und zwar auf flacher Ebene. Nun aber liegt in der Ferne ein Pass vor uns, dessen schneebedeckter Gipfel von Wolken umhüllt ist, genau da wollen wir rauf. Mein Rappe wird also nicht weiter mit Gepäck beladen, an seinem Satte baumelt lediglich ein Seil mit Eisenhering am Ende, mit dem die Pferde zur Nachtruhe angeleint werden. Andere müssen neben ihrem Reiter noch Satteltaschen schleppen, mit unseren Rucksäcken und Verpflegung für die nächsten zwei Tage. Die Sonne scheint, das gibt Hoffnung, dass wir auch später nicht allzu sehr frieren werden. Ich sitze erstaunlich leicht auf, die Pferde sind allerdings mit einem Stokmaß von etwa 1,50 m nicht allzu groß. „Gar nicht so schlimm“, denke ich, als wir gemütlich loszockeln. Das sanfte Schaukeln lässt sich leicht ausbalancieren, die richtige Zügelhaltung hatte ich mir von Sonja erklären lassen, die ein eigenes Pferd besitzt. Bevor die erste richtige Anhöhe kommt, müssen wir einen Flusslauf überqueren – da driftet mein Pferd plötzlich links ab. Es ist durstig, doch Fabienne warnt mich: „Er darf nicht trinken, versuch, ihn auf die Brücke zu lenken“. Ich ziehe beherzt am Zügel, aber der Dickkopf des Pferdes geht unbeirrt nach unten Richtung Trinkquelle und lässt mich unbeholfen dasitzen. Wie Menschen vor einem Marathonlauf ist es auch Pferden vor großer Anstrengung nicht bekömmlich, den Bauch mit Wasser aufzublähen. Fabienne kommt also herangeritten und bugsiert uns zwei auf die Brücke. Weiter gehts mit dem gemütlichen Geschuckel. So ein Pferd ist ja nicht doof und so merkt sicher auch mein Ross, dass die Reiterin nicht die erfahrenste ist. Hin und wieder bockt er, tritt nach hinten gen Mitreiter aus und weigert sich, Wasserstellen zu überqueren. Bis mir Dschumart, der Horseboy, der unsere Gruppe begleitet, seine kleine Lederrute gibt. „Aber nicht verlieren!“ Es ist eine Ehre, das handgefertigte Reitwerkzeug eines Kirgisen zu bekommen und verschafft mir umgehend mehr Respekt bei meinem Pferd. Ich beginne, die erhöhte Position zu genießen und denke an den Wanderausflug zurück, als ich mir wünschte, jemand liefe für mich, damit ich meine Beine schonen und trotzdem die Aussicht genießen kann. Nun geht mein Wunsch in Erfüllung, doch ich merke schon, dass sich die ungewohnte Sitzposition bald in sonst unbeachteten Muskelpartien bemerkbar machen wird, zumal ich immer noch ein bisschen angespannt bin. Solange aber genieße ich die wilde Natur: Wieder durchqueren wir Klettenfelder, diesmal bleiben die Bällchen zuhauf in der Mähne meines Pferdes hängen. Freilebende Stuten säumen unseren Weg. In Kirgistan werden nur die männlichen Tiere geritten, da die Stutenmilch gebraucht wird, unter anderem um das sommerliche Nationalgetränk Kumys herzustellen (leicht vergorene Stutenmilch) und natürlich den Nachwuchs zu nähren. Außerdem wird das Fleisch der Stuten verarbeitet. Vielleicht also habens da die vollbepackten Männer unserer Gruppe doch besser... Unser Pfad schlängelt sich durch immer höher werdende Hügel, zwischendurch verlieren wir den Pass aus den Augen, aber das Ziel rückt immer wieder zurück ins Blickfeld: Da wollen wir rauf. Als wir bei einer kurzen Rast endlich mal hinter uns richten, trifft uns das daliegende Panorama mit voller „Aaah“ und „Oooh“-Wucht. Wie für eine Modellwelt drapiert liegen die Berge da, hintereinander in verschiedenen Schichten aufgetürmt. Zuerst die grasbewachsenen Hänge mit ihren fast flachen Kuppen, auf denen ab und an ein einzelner Reiter auftaucht. Dahinter die orange-rötlich schimmernden Berge mit nur noch vereinzelten Gräsern und schließlich die Gipfel deren verschneiten Kuppen eisig im Sonnenschein glitzern. Wir fläzen uns auf den Hang, der auch den Pferden ein paar Möglichkeiten zum Grasen gibt und snacken Brot, Äpfel, Käse, Wurst, Trockenfrüchte und Nüsse. Plötzlich ziehen drei mächtige Gestalten ihre Kreise über unseren Köpfen, mit ihren am Ende gezackten Schwingen unverkennbar: Adler. Fasziniert von so viel natürlichem Einklang (die Pferde dort, wir hier und über uns die Greifvögel) fühle ich eine unglaubliche Ruhe. Das Leben kann so einfach sein. Auch wenn es eine trügerische Idylle ist, gebe ich mir ihr gerne für die zwei Tage hin und genieße die Freiheit, die frische Luft und das Geschaukel auf dem Pferderücken. Unsere Gefährten sind schon etwas ermüdet vom Aufstieg, daher beschließen wir, ein Stück selbst zu laufen und stapfen mittlerweile durch wadenhohen Schnee. Langsam, denn wir brauchen noch mehr Pause als die Pferde bei der dünnen Luft hier oben. Langsam lichtet sich die Berglandschaft und der Wind nimmt mit jedem Schritt zu, mit dem wir uns der Kuppe nähern. Oben angekommen wieder ein „Wow“-Moment, beim Blick auf den Gebirgssee Songköl, halb vereist und tiefblau liegt er da, eingerahmt von verschneiten Hügeln. Dort unten wollen wir heute übernachten. Aber erstmal feiern wir die vollbrachte Etappe und lassen einen Thermobecherkappe mit Wodka rumgehen. Die Wärme, die mit dem Schluck durch den Körper rinnt, können wir gut gebrauchen, auf der eisigen Anhöhe erstarren Finger und Zehen gefühlt zu Eisklumpen. Auch die Pferde stehen dicht gedrängt aneinander, um ihre Körperwärme zu teilen. Social Huddling nennt man das, quasi Gruppenkuscheln, erklärt mir Sonja, die Pferdebesitzerin. Für die Tiere kommt nun der leichtere Teil, der Abstieg. Knarzend stapfen sie frische Spuren in den Schnee, wie eine Karawane gemächlich hintereinander herlaufend. Der See kommt immer dichter, kurz bevor wir das Ufer erreichen, biegen wir links ab. Hinter einer Anhöhe liegt unsere Jurte, bald sind wir da. Die anderen wollen im Schein der letzten Sonnenstrahlen über die Ebene galoppieren, ich lasse mich mit Dschumart zurückfallen. Wir genießen, wie alles um uns herum rötlich glüht, wie ein letztes, demonstratives Aufflackern des Tages bevor die Sonne sich hinter den Bergen zurückzieht. Auf einer Kuppe halten wir kurz an und schauen, wie die anderen in einiger Entfernung weiter traben. Und wirklich, in dem Moment wiehert mein Pferd. Ein magischer Moment. Es ruft seiner Herde hinterher, erklärt mir Dschumart. Der Zauber verfliegt ein wenig und wir beeilen uns, zu den anderen aufzuschließen. Als sich das Abendblau über die Landschaft legt, ist es schlagartig kalt, wir ziehen uns die Schals vor das Gesicht. Doch die Jurte ist schon in Sichtweite. Ich habe es geschafft, mein erster Ausritt auf einem Pferd, nun schnell ins Warme. Meine Finger sind eisig, die Anstrengung ist schon zu spüren, mein Körper braucht Nahrung, um sich weiter aufwärmen zu können. Im Innern haben Ulan und Ulan Junior, zwei Verwandte von Mira alles hergerichtet: Im Ofen glühen die Kohlen, auf dem Tisch ist die übliche Teetafel angerichtet, mit Brot, Marmeladen, Trockenfrüchten, Keksen und Bonbons, immer wieder wird Chai nachgegossen. Als die Pferde angeleint sind, kommen auch Dschumart und Fabienne zu uns in die Jurte. Allen ist die Anstrengung anzusehen, die Gesichter glühen und einige haben sich schon auf dem Boden ausgestreckt, um ein kleines Nickerchen zu halten. Unsere Gastgeber rödeln weiter in der kleinen Hütte, die dem Eingang der Jurte vorgebaut ist und bereiten unser Abendessen vor. Wir vertreiben uns die Zeit mit einer Runde UNO, bis wir feststellen, dass es draußen schon komplett dunkel ist. Solange der Mond noch nicht hinter den Bergen auftaucht, haben wir die beste Chance auf einen intensiven Sternenhimmel. Also zwiebeln wir uns wieder ein und stapfen nach draußen. Dass ich beim Blick nach oben nicht einfach rückwärts umkippe, ist wahrscheinlich meinem Unterbewusstsein gedankt, dass mein Hirn vor dem nassen, kalten Schnee warnt. Der Anblick ist un-fass-bar. So viele Sterne! Keine einzige Lichtquelle weit und breit verschleiert das Firmament, ich kann also gefühlt jeden einzelnen Himmelskörper unseres Universums erkennen, sogar ohne Brille. Wie ein Zelt spannt sich die glitzernde Sternendecke über unseren Köpfen, festgemacht an den Berggipfeln, die den See einkesseln. Die Milchstraße über mir scheint so nah, dass ich versuch bin, mir einen Liter abzuzapfen. Als wir uns vom Anblick losreißen können, gehen wir zum Ufer des Sees. Hier schauen wir uns die bizarr vereiste Fläche an, soweit wir sie erkennen und tauschen Geschichten über mysteriöse Fabelwesen aus, die sich in Kirgistan aufhalten sollen. Als wir wieder durchgefroren sind, huschen wir zurück in unser Nachtlager, wo das Essen mittlerweile fertig ist. Pelmeni, fleischgefüllte Teigtaschen für die Männer, wir drei „vegetarischen“ Frauen haben das Glück, dass wir allesamt Fisch mögen, sonst wären wir wohl bei der warmen Mahlzeit leer ausgegangen. Zwei dicke, ganze Fische landen jeweils auf einem Teller, gefangen im Songköl. Obwohl das Fischen hier eigentlich verboten ist... Das schlechte Gewissen meldet sich, vor allem weil die Fische so gut schmecken, dass ich fast schon verstehen kann, warum einige Anwohner sich über das Verbot hinwegsetzen... Danach geht bei den meisten nichts mehr, eine Stunde später liegen wir wie die Sardinen nebeneinander und mummeln uns in Decken und Schlafsäcke ein. Nur eine kleine Dreiergruppe wagt nochmal einen Ausflug, um nächtliche Fotos zu schießen. Allerdings verdecken mittlerweile Wolken den Himmel. Am nächsten Morgen erhasche ich noch die letzten Momente des Sonnenaufgangs, eher hatte ich es nicht fertig gebracht, die Wärme des Schlafsacks aufzugeben. Am Ufer kann ich das erste Mal den Blick von nahem über den See schweifen lassen. Das Wasser ist auf den Steinen am Rand festgefroren, das Eis dahinter sieht stabil aus. Wenn alles zugefroren ist, kann man hier bestimmt mit Lastern drüber fahren. Noch ist aber in der Mitte ein Wasserfläche zu erkennen. Der Winter hat ja auch gerade erst begonnen. Als ich in die Jurte zurückkomme, ist das Nachtlager bereits komplett aufgelöst, die Schlafmatten sind verstaut und der Frühstückstisch ist gedeckt. Im riesigen Topf köchelt Kascha, eine Milchsuppe mit Weizengrieß. Das warme Frühstück tut gut, wir sind gestärkt für den Rückweg. Diesmal müssen wir bis ins Dorf zurückreiten. Ich bekomme ein anderes Pferd zugeteilt, weil nun die Ladung umverteilt wird – mein störrischer Gaul von gestern ist dran mit Gepäckschleppen, darum übernimmt Fabienne ihn. Mein neuer Begleiter hat im Kampf den kürzeren gezogen und deswegen ein zweigeteiltes Ohr. Ich taufe ihn Schlitzohr. Er reagiert ganz ohne Klaps auf die Befehle „Tschu“ für Los und „Trrr“ für Halt. Wir nehmen einen anderen Weg zum Pass zurück und trotten gemächlich durch den über Nacht gefallenen Pulverschnee. Die Pferde spüren, dass es nach Hause geht und werden immer schneller, je näher wir uns dem Ziel nähern. Die Flüsse überqueren sie viel bereitwilliger, auch ich fühle mich sicherer im Sattel und bleibe auch beim Minisprung übers Wasser fest sitzen. In den flacheren Gefilden lässt sich Schlitzohr vom Trab der anderen mitreißen, das lässt mich dann doch hilflos kichernd wanken, in der Aufregung verwechsle ich die Befehle und nehme noch mehr Tempo auf, statt zu bremsen. Bald aber bekomme ich ihn wieder gezähmt. Beim nächsten Lauf habe ich mich aber dran gewöhnt und traue mich, mit der Gruppe Schritt zu halten. Als wir im Tal angekommen sind, wage ich meinen ersten Galopp und stelle fest, dass das weit angenehmer ist, als die kurzen Trabschritte. Ich halte mich mühelos im vorderen Drittel. Auf dem Weg zum Dorf kommen wir an den Ruinen muslimischer Grabstätten vorbei, die vor Jahrhunderten hier errichtet worden sind und lassen uns von Hunden ankläffen, die einen Stück des Weges neben uns herrennen. Ich verstehe, warum Reitfans immer vom Gefühl der Freiheit reden, das sich auf dem Rücken eines Pferdes einstellt. Nach knapp sechs Stunden haben wir es geschafft. Geschafft, aber stolz gleite ich aus dem Sattel und tätschel Schlitzohr ein letztes Mal den Hals. „Жакшы“, murmel ich, „gut gemacht“.
Was gibt es schöneres als an einem Samstag um 6.30 Uhr aufzustehen? Öhm... Endlich mal ausschlafen?! ES IST WOCHENENDE! Schreie ich meine Wecker innerlich an, aber ich schäle mich aus dem Bett. Denn ich weiß: In ein paar Stunden bin ich dankbar. Außerdem kann ich ja im Bus noch weiterschlafen. Das mache ich auch und als ich aufwache, stellt sich Seelenfrieden ein. Vorsichtig rumpelt der Fahrer unsere Gruppe über die spärlich asphaltiere Straße, die sich durch das westliche Hochgebirge des Tienshan schlängelt. Schneebedeckte Gipfel ziehen am Fenster vorbei, darüber strahlt der Himmel tiefblau, keine Wolke weit und breit. Ich habe mich dem kirgisischen Wanderverein angeschlossen, unser Ziel ist die Ak-Suu Schlucht. Kurzes Schütteln auf dem Parkplatz, Handschuhe und Mützen werden hervorgezogen. Schnell loslaufen, damit die Kälte nicht noch weiter unter die Zwiebelschichten unserer Kleidung krabbelt. Motiviert quasselnd stapfen wir den schmalen Pfad dahin, doch schon bald ersterben die Kennenlerngespräche. Jeder Atemzug wird für den Aufstieg gebraucht. Wir befinden uns auf über 2500 Metern, das heißt – schon etwa 25 Prozent weniger Sauerstoff gelangt in die Lunge. Nach dem ersten Hügel ebnet sich der Wanderweg, es ist wieder genug Energie da, um Gruppenfotos auf den herumliegenden Felsbrocken zu machen. In der Ferne thront Pik Putin, ein 4000er, der seit gut sechs Jahren den Namen des russischen Präsidenten trägt. Wir bilden eine Menschenkette, um den halb vereisten Fluss zu überqueren, der die Schlucht teilt. Das Wasser ist glasklar und schmeckt sogar aus einer Plastikflasche noch hervorragend. Danach werden die Schneeflächen immer dichter, beständig knarzt es unter unseren Schritten. Dazu dudelt russischer Pop, der aus der Box dringt, die an Ruslans Rucksack baumelt. So vertreiben wir drei Rinder vor uns, die hier in Ruhe weiden wollen. Als wir an ihnen vorbei sind, kommen sie allerdings neugierig nachgelaufen. Besitzer sind weit und breit nicht zu sehen, auch Pferden traben jenseits des Flusses herrenlos durch die Gegend. Sie stören sich an uns und unseren Kameras nicht weiter und ziehen in die Richtung, aus der wir gekommen sind. Kalt ist schon lange keinem mehr von uns. Als wir rasten, zieht Ruslan sogar die Jacke aus und sitzt mit nackten Armen auf 3000 Metern Höhe im Schnee. Der Alkohol hält ihn warm, sein Rotwein macht beim Picknick die Runde. Dazu wird kirgisisches Brot herumgereicht, abgepackte Mini-Kuchen fliegen durch die Luft. Jeder teilt, was er hat. Wir haben das Ende unseres Hinwegs erreicht, endlich ist Zeit, um in der großen Runde zu quatschen. "Scheiße" und "Fick dich" sind die ersten Vokabeln, die grinsend aus dem Gedächtnis gekramt werden, als ich mir vor allen als Deutsche oute. Mister Li, ein bedächtiger Südkoreaner, den alle immer nur Mister Li nennen und der stets mit seinem hölzernen Wanderstock voranschreitet, hebt das Niveau wieder: "Keine Rose ohne Dornen". Oho, so etwas Poetisches habe ich noch nie in solchen Unterhaltungen gehört. "Yaninna, what is again "butterfly" in german?", fragt Alina. Haha. Ich gönne ihnen den Spaß mit dem Schmetterling. (Wer es nicht kennt: Klick hier, Ab Sekunde 20) Als die Füße vom Nichtstun wieder kalt geworden sind, brechen wir auf, nun mit der Sonne im Rücken. Ihr Licht ergießt sich als gold-orangener Schimmer auf den Bergen rechts und links von unserem Weg. Beschwingt geht es bergab, schon bald puckert es überall dort, wo sich Blut kurzfristig zurückgezogen hatte. Mister Li arbeitet als Ingenieur für ein Wasserkraftwerk in Kirgistan, stellt sich heraus. Nicht alle sind wie er feste Mitglieder im Wanderverein. Auch zwei türkische Touristen und ein russischer Hochzeitsfotograf auf der Durchreise sind spontan zum Trekking dazugestoßen. Mit zwei Kirgisinnen, die im Sommer als Reiseleiterinnen arbeiten, kann ich sogar deutsch sprechen. Sie freuen sich, dass sie mit mir ein bisschen üben können. Zurück vergeht die Zeit schneller, obwohl bergablaufen nicht weniger anstrengend ist. Den Weg zum Parkplatz bahnen wir uns durch ein Feld voller Kletten und ziehen uns gegenseitig die tischtennisballgroßen Ärgerlinge von der Kleidung, bevor wir geplättet in die Sitze im Bus sinken. 17,5 km sind wir marschiert, unsere Wangen glühen von der Anstrengung und Kälte. Zurück in der Wohnung schaffe ich es gerade noch, ein heißes Bad zu nehmen – und den Wecker für den nächsten Tag auszuschalten. Dem Wort Basar haftet für mich immer noch dieses orientalisch-exotische an: Gehört oder gelesen sehe ich gleich riesige Körbe von Früchten vor meinem inneren Auge, der Geruch von Zimt steigt mir in die Nase – das einzige Gewürz, das ich eindeutig aus zu Mini-Bergen aufgeschütteten, bunten Gewürzhaufen erkenne – es wird geschrien, gefeilscht, gelacht, der neueste Tratsch macht die Runde. Vielleicht gibt es auch einen Stand, an dem lebende Tiere wie Hühner oder Schildkröten zum Kauf angeboten werden, in jedem Fall ist es heiß. An Klischees klammert man sich so lange, bis sie von der Wirklichkeit überholt werden. Letzte Woche habe ich zwei volle Tage auf dem Osch-Basar am westlichen Rand der Innenstadt von Bischkek verbracht. Er ist der größte in der Umgebung, gefolgt vom Alamedin-Basar am östlichen Rand; Im Stadtzentrum selbst befinden sich kleinere Basarhallen, deren Eingang meist gut versteckt hinter der Leuchtreklame von Fast-Food-Ketten liegt. Der Oschbasar befindet sich auf dem Gelände des ehemaligen Kolchosenmarktes (Kolchosen waren die sowjetischen Genossenschaften von landwirtschaftlichen Betrieben). Bauarbeiter aus dem im Süden des Landes gelegenen Osch erbauten in den 1980er Jahren den Markt - daher der Name Oschbasar. Bis heute verändert sich das Gelände ständig, neue Stände kommen hinzu, alte Gebäude werden renoviert. Das Angebot passt sich der Nachfrage an, längst gibt es hier nicht mehr nur Lebensmittel, Kleidung und Haushaltskram zu kaufen, immer mehr Raum nehmen Handyzubehör und elektronische Gadgets ein. Die schwemmt massenhaft und billig der große Nachbar China auf den Markt. Kurzum: Auf dem Basar gibt es ALLES. Darum erledigen die Kirgisen in der Regel auch alle ihre Einkäufe auf Basaren. Zwar schießen im Moment Supermärkte mit einem ähnlichen Sortiment wie Pilze aus dem Boden, doch die Preise hier sind um ein Vielfaches höher und mit dem Durchschnittseinkommen nicht zu vereinbaren. Hier kaufen hauptsächlich Expats (Kurzzeitaussiedler) aus dem Westen ein oder die reiche Elite des Landes. Ich versuche, mich nur bei Reiswaffeln und Milchprodukten an den nahegelegenen Supermarkt zu halten, denn ersteres gibt’s auf dem Basar nicht und die ungekühlten Milcherzeugnisse der Bauern werden auf dem Weg zum Basar durch eine Portion Antibiotika haltbar gemacht. Da geht meine Gesundheit dann vor... Die Atmosphäre auf dem Basar ist wirklich einzigartig. Einmal mit Menschen gefüllt gibt es kaum Halt im Treiben, man schiebt und schubst sich durch die Gänge, tatsächlich wird geschrien, gefeilscht und gelacht. Heiß ist es zwar nicht, doch mit über 20 Grad noch recht warm für Ende Oktober. Das wirklich exotische hier sind wir: Nadine und ich, die Schweizerin und die Deutsche. Zwei unverheiratete, kinderlose Frauen Anfang 30, die mit großen Videokameras über den Basar laufen und einen Kinofilm drehen. Für Nadines neue Dokumentation portraitieren wir die Frauen in der Fleischhalle des Basars, sprechen mit Ihnen über die Arbeit, ihre Lebensgeschichte – und Männer natürlich, so von Frau zu Frau... Zuviel kann ich nicht verraten, dafür lohnt es sich zu warten, bis der Film nächstes Jahr auf europäischen Filmfestivals läuft. Aber ein Blick hinter die Kulissen ist gestattet. Wir verbringen zwei Arbeitstage mit den Frauen, die hier von früh bis spät Innereien verkaufen. Der Geruch in der Halle ist genauso schlimm, wie man ihn sich vorstellt. Und er bleibt in der Kleidung haften. Morgens kommen die kopflosen Leiber der Bullen, Kühe und Schafe auf Karren in die Halle gefahren, werden vor Ort zerhackt, die Einzelteile dann akkurat an den Fleischerhaken aufgehängt. Zungen werden nochmal extra geputzt, Beinchen wie Holzscheite übereinander geschichtet. Das teuerste Fleisch hier kommt vom Yak, das auf den Hochweiden des Landes lebt. Die abgetrennten Fettmassen hängen bizarr wie große Leinenlaken auf den Garderoben hinter den Verkaufstresen, dazwischen die Jacken der Arbeiter/innen. Die Tierköpfe kommen auf weiteren Karren, filmen sollen wir das aber nicht: Das sei schmutzig, erwecke einen komischen Eindruck. Viele haben Angst, dass wir sie und das Land schlecht dastehen lassen. Unterdessen drapieren die Frauen sorgsam die Auslage auf den Alutheken: Därme werden zu Zöpfen verflochten, Magen umgestülpt, damit die feine Struktur im Innern gut zur Geltung kommt; Das Highlight ist ein Stück Rinderschwanz, das auf einer umgedrehten Pappschachtel thront und somit das restliche Angebot überragt. Es sind solche Details, mit denen die Frauen Würde bei der Arbeit mit den Innereien wahren. Immer wieder wischen sie das Blut von der Theke, tupfen mit einem Schwamm den Fleischsaft weg, der aus den abgespülten Innereien rinnt. Dazu werde ich ständig aus dem Weg gemopt, wenn der Junge vom Reinigungsdienst seinen Wischer über den Boden schwingt. Anfangs sind wir noch zögerlich, wissen nicht so richtig, wohin mit unserem Equipment: "Nee, nicht da in den Saft, da wurd gerade ein Euter zerteilt. - Sollen wir die Taschen vielleicht da an den Fleischhaken aufhängen? - Uh, pass auf, dein Stativ steht im Blut." Am zweiten Tag ist das alles egal, der Geruch ist uns fast schon vertraut, die Kameras lassen wir auf der Verkaufstheke stehen und was an unseren Sohlen klebt, lässt sich ja wieder abwaschen... Auch die Mitarbeiter/innen in der Fleischhalle haben uns mittlerweile akzeptiert. Wie ein Lauffeuer hatte es die Runde gemacht, dass hier ein Kinofilm entsteht und dass wir deutsch sprechen. Ich werden mit "Guten Tag" oder "Mein Name ist..." begrüßt, wenn ich die Halle nur kurz verlassen habe und wieder zurückkomme, viele winken mich ran: Das hier, das musst du auch filmen. Wir werden zu Brot und Tee eingeladen, eine abwischbare Picknickdecke sorgt für häusliche Atmosphäre neben all den Innereien. Die Frauen sind dankbar, dass sich jemand für sie und ihre Arbeit interessiert, daher gibt es noch Geschenke für uns. Ich als Vegetarierin bin fein raus und nehme dankbar einen Leib Brot entgegen, Nadine hingegen wird mit Magen und Darm beschenkt. Zweieinhalb Stunden kochen und ein paar Gewürze dazu, dann sei das eine Leibspeise, versichern die Frauen. Ich sehe Nadine die Skepsis an, aber artig nimmt sie die Plastiktüte entgegen. Ihre Katze wird sich freuen.
Am Tag nach den Dreharbeiten bin ich froh, wieder in frische Kleidung schlüpfen zu können und habe den Geruch der Innereien bald vergessen. Die Begegnungen und Gespräche aber hängen mir noch einige Tage nach. Ich freue mich schon auf meinen nächsten Basarbesuch – ich werde mit Sicherheit einen Abstecher in die Fleischhalle machen. Joggen ist nicht so richtig angesagt im Zentrum von Bischkek. Zwar verirren sich einzelne Läufer in den Eichenpark im Norden der Stadt, gar nicht weit von meiner Wohnung entfernt. Doch abgesehen von den verständnislosen Blicken, die ich in meinen Barfuß-Laufschuhen auf dem Weg dorthin ernten könnte, schreckt mich die Menge an Abgas ab, die ich mit jedem tiefer werdenden Atemzug bis in die Spitzen meiner Lunge saugte. Man muss es ja nicht drauf anlegen. Außerdem ist im Moment noch Hochsaison in der Baubranche – überall sind die Straßen aufgerissen (und nein, sie sind dann nicht abgesperrt), vor losen Gullideckeln muss man sich ohnehin hüten. Je schneller der Schritt, desto größer die Gefahr, unversehens in die Kanalisation zu plumpsen. Ich habe diverse Narben dazu gesehen. Sie machen nicht sonderlich sexy. Bevor ich mich also im Fitness-Studio um die Ecke anmelde, um meinen Bewegungsdrang zu stillen, versuche ich es mit Schwimmen und finde mich vor dem imposant wirkenden Dolphin Pool wieder. Diese Sportstätte aus Sowjetzeiten hat sich auch innen noch etwas vom alten Flair bewahrt. An der Kasse verkauft eine alte Frau die Eintrittskarten und ihren Runzeln nach zu urteilen tut sie das schon seit Eröffnung des Bades vor gut 55 Jahren. Wohlwissend, dass ich wenig bis gar nichts verstehe, erklärt sie mir in genuscheltem Russisch die Baderegeln und drückt mir einen Spindschlüssel in die Hand. Gut, den Eingang ins Bad finde ich auch ohne Erklärung, am Beckenrand ist dann aber erstmal Halt. Der Bademeister fängt mich ab. Wo denn meine шапочка sei. Sein Ernst? Ich brauche eine Badekappe? Hab ich nicht. Tja, aber ohne darf ich nicht ins Wasser. Wie praktisch, dass sie im Büro vor den Umkleiden die Gummihauben verkaufen. Ich stehe also triefnass (abgeduscht hatte ich mich ja schon) im Flur an den Spinden und kann zum Glück eine umherlaufende Badangestellte bitten, mir ein Exemplar in die Umkleide zu bringen, damit ich endlich schwimmen kann. Sie kommt mit einer ganzen Auswahl wieder, es gibt unterschiedliche Größen und Farben und alle kosten das Dreifache des Eintrittspreises. Frechheit für so einen Gummilappen. Dafür suche ich mir das hässlichste Modell aus, dass sie im Angebot hat und stapfe als Möchtegern-Totenkopf zurück ins Bad. Meine Bahn teile ich mir mit Mars, "wie der Planet", sagt er stolz, der mich unbeirrt nach jeder Runde am Beckenrand zum Quatschen abfängt. Zu UdSSR-Zeiten war er Oberst, jetzt ist er eigentlich schon Pensionär, betreibt aber ein Hotel am Yssykköl hier in Kirgistan, dem zweitgrößten Gebirgssee der Welt. Dort ist das Wasser jetzt leider schon zu kalt zum Schwimmen. Irgendwann jagt uns alle dann ein Gong aus dem Wasser. Es ist halb zwei, Schichtwechsel - wir müssen Platz machen für neue Badegäste... Wie gut, dass mich Marie, meine Mitbewohnerin, schon vorgewarnt hatte. Etwas schmunzeln muss ich dann aber doch über diesen ungewohnten Umgang mit Badegästen. Marie ist es auch, die mich am Samstag mit nach Issyk- Atta nimmt. Den Namen (wörtliche Übersetzung: Vater Hitze) kenne ich schon von Etiketten auf Mineralwasserflaschen. In dem Gebirgsort in der Tschui-Region etwa 70 km von Bischkek entfernt, entspringen verschiedene heiße Quellen. Das lockte Heilsuchende an und so wurde hier bereits 1891 ein Sanatorium erbaut, das unter der sowjetischen Besatzung des Landes seine Hochzeiten hatte. Im Zweiten Weltkrieg brachte man Soldaten zur Genesung hierher. Noch immer werden Treatments für Knochen- und Muskelkrankheiten angeboten, Esoteriker schwören auf die Kraft der klaren Quellen und auch Opfer der Tschernobyl-Katastrophe lassen ihre Strahlungskrankheiten hier behandeln. Wir wollen einfach wandern und schwimmen. Der Ort ist ein beliebtes Ausflugsziel für Touristen geworden und ganzjährig geöffnet. Als wir insgesamt zu dritt durchs Gelände kraxeln, hoffen wir, den aus Stein gehauenen Buddha zu entdecken, der hier schon seit über 1000 Jahren in den Bergen hockt. Stattdessen begegnen wir einem anderen Kult: Wohl um die Quellen zu verehren säumen den Weg einige Wunschbäume. Eigentlich sollen kleine Tuchstreifen, die in die Äste gehängt werden, Wünsche übertragen. Neu interpretiert flattern hier Plastikfetzen im Wind. Ein irgendwie... trauriger Anblick.
Also auf zum Badebereich, jetzt wollen wir doch auch in das gepriesene Warmwasser abtauchen. Leider ist zu dieser Zeit nur noch der kleine Pool mit Wasser gefüllt und der ist bereits vollgestopft mit Badegästen. Doch das Warten lohnt sich. Israelische Touristen kredenzen uns am Beckenrand Kaffee, den sie auf ihrem Campingkocher aufgesetzt haben, wir schmeißen unsere Kekse in die Runde. Und als endlich Platz im Wasser ist, genießen wir die warme Wonne, die aus den Leitungsrohren auf unsere Rücken rinnt. Ich schließe die Augen und versuche den leichten Schwefelgeruch zu ignorieren, der über die Wasseroberfläche weht.
"Wenn du den Menschen in der Region näher kommen willst, dann fahr mit der Eisenbahn." Den Tipp bekam ich öfter - wenn ich mit Russen oder Deutschen, die schon länger im russischen und zentralasiatischen Raum unterwegs sind über meine Kirgistanpläne sprach. Also gut.
Tag 1: Saft für Saft Auf Gleis vier wartet sie auf mich und viele andere, vollbepackte Mitreisende - eine grüne Lady aus Stahl, elf Waggons lang. Es scheint, als zwinkere sie mir mit einem Scheinwerfer zu, dazu schnaubt sie sanft den Dampf der verbrennenden Kohle in den rötlichen Abendhimmel über Moskau. Im Innern erwartet mich Lektion Nummer eins: Nie wieder oben buchen . Das bedeutet nämlich, dass man keinen Tisch und tagsüber keine vernünftige Sitzmöglichkeit hat. Gut, das hätte ich mir auch vorher denken können. Aber auch Hilfsbereitschaft: Meine beiden männlichen Mitfahrer im Abteil kümmern sich darum, dass mein Koffer in die Gepäckablage über der Tür gewuchtet wird. Später, als wir alle unsere dünnen Bettlaken und ein Handtuch zugeteilt bekommen, verlässt mein unterer Schlafnachbar das Abteil und kommt mit einer dicken Wolldecke wieder, die er mir wortlos nach oben reicht. Danke – obwohl ich mich bei der stehenden Luft im Abteil wirklich nicht noch unter einer dicken Decke ersticken muss. In Russland ist es bei weitem nicht so kalt, wie ich gedacht habe und ich bin ganz froh, dass ich einige meiner Zwiebelhäute im Zug endlich ablegen kann. Da dicke Kleidung zuviel Platz im Koffer wegnimmt, hatte ich alle Schichten an mir. Am nächsten Morgen beginnt die Suche nach Strom. Die scheinbar einzige Steckdose auf dem Gang ist dauerhaft belegt, ich zähle auf den Bistrowagen. Der ist gleich nebenan, darauf hatte ich bei der Buchung geachtet. Saft für Saft, das ist der Deal mit der Bedienung dort. Ich muss ihr eine Packung Granatapfelsaft abkaufen, dafür stöpselt sie meinen Rechner ein. Brav nehme ich also einen Schluck und stecke die Packung dann ein. Kurz darauf bereue ich das Geschäft, als nämlich auf dem Rückweg zum Abteil der Saft aus dem Tetrapack schwappt und meinen neuen Jutebeutel versaut. Hätte es nicht auch Mineralwasser sein können? An der Kohlestelle am Ende des Waggons genehmigt sich der Zugbegleiter ein Kippchen. Am Wasserkessel dahinter, zum Gang hin kann man sich heißes Wasser abzapfen. Sämtliche Instant-Aufguss-Produkte sind also der Renner im Zug und werden an jeder Station aus kleinen Kiosks verkauft. Zum Frühstück gibt es beim fürsorglichen Schlafnachbarn von unten - ich schätze ihn auf Mitte 60 - eine Instantsuppe. Wir sind und bleiben zu dritt im Abteil, die zweite obere Schlafstätte bleibt leer. Als mir später am Tag der andere Mitfahrer eins seiner Nescafé-Tütchen anbietet, winke ich erst ab. Es scheitert am Becher, mache ich ihm begreiflich – da verschwindet er kurz und kommt mit einem Teeglas in silbriger Thermohalterung wieder. Die gibt´s offensichtlich im Speisewaggon, denn seines sieht genauso aus. Also gieße ich mir eine 3-in-1-Kaffeespezialität auf und komme mit den beiden ins Schwatzen. Mein Kaffeeheld stellt sich als Polizist heraus, ursprünglich aus der Nähe von Jekaterinenburg, der berufsbedingt zwischen Moskau und Baikonur pendelt. Die kasachische Stadt ist vor allem für den Kosmodrom bekannt, den weltweit größten Raumfahrtbahnhof, von dem seit Sowjetzeiten die russischen Weltraummissionen abgehen. Stolz zeigt er mir auf dem Handy das Foto eines Raketenstarts. Ein bis zweimal pro Monat fährt er die Strecke. Ruslan, so heißt er, ist ein schlächtiger Typ mit geschorenem Kopf. Doch sein volles Gesicht birgt noch junge Züge, er wird Anfang zwanzig sein. Meine Überlegung, ob er vielleicht MMA-Kämpfer ist, verwerfe ich, als er mir das Buch reicht, in dem er die Fahrt über schmökert – Dante, eine Gedichtsammlung. Unter mir liegt Ludovik, ein pensioniert Offizier, der zu UdSSR-Zeiten in Deutschland stationiert war. Magdeburg, Potsam, zählt er auf. Deutsch spricht er aber nicht mehr. Nach unserem Gespräch fühle ich ich gut aufgehoben im Abteil - und bin froh, dass keiner der beiden schnarcht.
Die erste Zugetappe geht durch Russland
Tag 2: Anziehen, hinstellen
Der Tag beginnt für mich zum ersten Mal, als um 1.33 Uhr in Iletsk russische Grenzkontrolleure die Tür aufreißen und uns aus dem Bett brüllen. Verpennt, aber brav setzen wir uns unten auf die Liegen und warten darauf, einzeln vor den befehlshabenden Beamten zu treten. Beim Blick in sein starres, ernstes Gesicht wird mir dann doch mulmig. Ich habe gar nicht genügend Rubel dabei, um ihn zu bestechen, schießt es mir durch den Kopf. Meine Kontrolle dauert etwa dreimal so lang wie die der anderen, aber ich bekomme den Stempel für die Ausreise. Kaum erkennbar ist eine kleine Lok im Rand des Stempelmotivs versteckt. Das zweite Mal beginnt der Tag etwa anderthalb Stunden und zwei Stationen später, als kasachische Kontrolleure gegen die Abteiltür bollern. Diesmal ist es eine Frau, die nicht weniger streng dreinblickt und meinen Pass erstmal mit auf Reise durch den Zug nimmt. Nach zähem Warten kommt er gestempelt und mit einer Zollerklärung versehen zu mir zurück, ich kann beruhigt weiter schlafen. Als ich wieder aufwache, hat sich die Landschaft hinter dem Fenster deutlich verändert. Statt auf verregnete Birkenwälder blicke ich nun in die Weite der kasachischen Steppe, die unter der Sonne rot-golden schimmert und so ihrer Kargheit einen gewissen Charme verleiht. Beim Frühstück bemerke ich die vielen fliegenden Händler/innen an Bord. Meine Angst vor Unterversorgung war völlig unberechtigt. Das Angebot reicht von Kosmetika und Schmuck über Tücher und Jogginghosen bis hin zu Gadgets wie Fidget Spinner, Selfie Sticks und Power Banks. Am begehrtesten scheinen aber die geräucherten Fische, die ältere Frauen an aufgehängt an kleinen Holzstöckchen durch die Gänge tragen und selbstgekochte Manti, also kleine gefüllte Teigtaschen, die sie – noch warm – aus riesigen Plastikschüsseln hinaus verkaufen. Mein Highlight beim Blick aus dem Fenster: Freilebende Kamele.
Tag 3: Man kennt sich
Mit der Privatsphäre im Zug ist es so eine Sache. Wenn man drei Tage bei meist geöffneter Abteiltür mit völlig fremden Menschen verbringt, ist sie de facto nicht vorhanden. Die Möglichkeiten, sich einen Raum für sich zu schaffen, sind rar. Man kann sein Gesicht hinter einem Buch oder dem Handy verbergen, die Ohren mit Musik verstöpseln oder sich schlafen legen. Nichts davon hält aber andere Mitfahrer wirklich davon ab, Kontakt mit dir aufzunehmen. Und so richtig möchte hier auch keiner für sich sein. Denn was gibt es langweiligeres, als sich ohne Bewegung und Ablenkung einzukapseln, wenn man doch so viele Menschen um sich hat, die man beobachten, mit denen man sich unterhalten kann?! So wächst die Zugbevölkerung zu einem Mikrokosmos heran, eine temporäre Gemeinschaft, die das beste aus der Fahrt macht. In der Nacht verabschiede ich mich von Ludovik und Ruslan. Als ich am Morgen aufwache, haben zwei andere Übernachuntsgäste ihre Liegen gekapert. Zurück bleiben einige Päckchen Nescafé auf dem kleinen Tischchen – und ein lieber Gruß, versteckt unter dem Teeglas. Im Speisewaggon hat sich die Bedienung gemerkt, dass ich den Kaffee ohne Zucker trinke und lächelt mich mittlerweile an. Und noch etwas scheint sich herumgesprochen zu haben: Irgendwann steckt der Zugbegleiter seinen Kopf in mein Abteil. Ob ich etwas von Notebooks verstünde? Ich schmunzel innerlich. Achso, weil ich selbst einen Laptop besitze, habe ich auch Ahnung davon. Fast schon logisch. Ich taper ihm hinterher und finde mich zwischen drei aufgeregten Männern wieder, die hilflos auf einen Laptop deuten, der sich offensichtlich aufgehängt hat. Die Fehlermeldung ist auf englisch, das scheint der Knackpunkt zu sein. Ich zähle auf einen Neustart, damit sich der Rechner erholt. Dann aber scheitert es am Passwort bzw. der Kombi mit dem Nutzernamen. Egal, welche Variante wir probieren – Azizas Rechner bleibt gesperrt. Schade, ich dampfe unverrichteter Dinge wieder ab. Auf dem Gang gabelt mich irgendwann Maksid auf. Er war wohl schon in meinem Abteil, aber da habe ich habe geschlafen. Ich solle doch einen Kaffee mit ihm trinken. Ich biete ihm eins meiner Päckchen an, aber nein – er möchte mich im Speisewaggon einladen. Er ist tadschikischer Bauer und zeigt mir die vielen Stempel in seinem Pass, sogar mit dem Flugzeug ist er schon gereist. So richtig entspannen kann ich mich nicht. Meine deutsche Skepsis meldet sich: Und wenn das nur Masche ist? Als ich mein Vokabelheftchen aus dem Abteil hole, checke ich meine Wertsachen. Alles noch da. Er will wirklich nur quatschen. Beim nächsten Halt nehme ich meine Tasche trotzdem mit. Am Bahnhof in Schymkent nehme ich sie trotzdem mit. Auch wenn ich nicht mal Geld brauche. Maksid möchte mir weiter Gutes tun, ich nehme also ein Kilo Birnen entgegen und zwei Erdbeer-Bananen-Joghurts. Zum Schluss drückt er mir noch 100 tadschikische Somoni in die Hand, umgerechnet knapp zehn Euro – den Schein solle ich in Berlin rumzeigen. Am Nachmittag kommt Maxid zu mir ins Abteil, das ich mittlerweile für mich habe. Er hat auch Lust auf Quatschen und lädt mich zu sich ins Nachbarabteil auf einen Tee ein. Dazu gibt es Lepjoschka, kirgisisches Brot in Form eines Kringels, das in Lehmöfen gebacken wird, Aprikosenaufstrich und hart gekochte Eier. Sogar Salz hat er einem kleinen Plastikröhrchen dabei. Nur die Wurst lehne ich dankend ab. Вегетариа́нка, das russische Wort für Vegetarierin, habe ich früh gelernt. Maxid ist 33 Jahre alt und arbeitet als Obsthändler auf dem Oschbasar in Bishkek. Die Geschäfte scheinen gut zu laufen, beim Sprechen blitzen mir vier Goldkronen auf der oberen Zahnleiste entgegen. Doch dann zieht er hinter dem Vorhang ein zweites Röhrchen hervor. Die kleinen grünen Kügelchen darin, Kautabak aus Usbekistan, lassen ihn für zehn Minuten seine Sorgen vergessen. Mit einem traurigen Lächeln kippt er einen Satz hinunter. Als ich ahne, dass die Wirkung einsetzt, lasse ich ihm den Rausch und genieße von meiner Liege aus die immer bergiger werdenden Landschaft Kasachstans. Mein Abteil ist immer mal Flurgespräch, hier und da höre ich Gemurmel über die "Njemka", die Deutsche. Ich fühle mich irgendwie exotisch, aber nicht unangenehm. Offenbar hat es die Runde gemacht, dass bei mir im Abteil noch zwei fertig bezogene Liegen frei sind. Denn als ich nach einem kurzen Gang über den Flur zurückkomme, haben es sich dort zwei Bedienungen aus dem Speisewaggon gemütlich gemacht. Sie haben Feierabend und schlummern selig ein. Die ersten Schnarchgeräusche werden laut. Als erneut die Grenzkontrollen losgehen, bin ich wieder allein im Abteil. Auf kasachischer Seite blinzel ich kurz in eine Augenkamera, die Kontrollen verlaufen auch hier mittlerweile elektronisch. Am freundlichsten erscheinen mir die kirgisischen Grenzbeamten – obwohl sie den größten Grund zur Skepsis haben. Schließlich kann ich nicht mal sagen, wann genau ich ihr Land wieder verlasse. Sie aber scheinen sich einfach über eine interessierte Touristin zu freuen und begrüßen mich um kurz nach halb 12 mit "Welcome to Kyrgyzstan" – und einem Stempel. Damit ich sicher ankomme, hatte Samat schon am Abend Alina aus dem Abteil rechts neben mir beauftragt, mir in Bishkek ein Taxi per Telefon zu rufen. Das ist sicherer, als am Bahnhof zu den winkenden Männern ins Auto zu steigen. Alina dürfte etwa so alt sein wie ich, lebt in Bishkek und teilt sich mit mir die Fahrt. Mein Ziel scheint auf ihrem Weg zu liegen, oder sie will einfach ganz sichergehen, dass ich gut ankomme. Schließlich ist es mittlerweile zwei Uhr nachts. Mit meiner letzten SMS hatte ich die genaue Wegbeschreibung zur Wohnung anfordern können, jetzt ist mein Guthaben leer. Das Apartment finde ich schnell, jetzt drücke ich die Daumen, dass einer meiner zukünftigen Mitbewohner einen leichten Schlaft hat. Als ich nach mehrmaligem Klingeln und einigen Minuten warten immer noch draußen stehe, beginne ich nach einem geschützten Platz zum Schlafen im Hof Ausschau zu halten. So kalt ist es ja gar nicht. Dann aber höre ich das Türsummen. Ich wuchte meinen Koffer die Treppe hinauf und werde von Marie empfangen, die zwar kaum die Augen aufbekommt, mich aber trotzdem anlächelt und hereinlässt. "Was hast du denn mit Kirgistan zu tun?", fragte mich neulich ein Kollege.
Noch nichts. Könnte die einfache Antwort lauten. Ich war ja erst ein einziges Mal da. Doch natürlich speise ich ihn nicht so einfach ab – obwohl ich mich über die Frage oder vielmehr die Art, wie er Interesse für meine Pläne zeigt, ärgere. Wieder begegnet mir dieser ungläubige Blick, den ich öfter ernte, wenn ich erzähle, dass ich nach Kirgistan gehe. Er gibt mir das Gefühl, ich müsse mich rechtfertigen dafür, dass ich ausgerechnet dieses kleine, unbekannte Land in Zentralasien für meinen Aufenthalt gewählt habe. Ginge ich nach - sagen wir mal Australien, wäre das wahrscheinlich anders. "Ah toll, ja nach Australien will ich auch nochmal. Nur der Flug dauert so lange" - "Sydney ist sooo schön, du musst unbedingt am Bondi Beach Yoga machen, wenn du da bist" - "Oooh, da kannst du bestimmt Koalas streicheln". So oder so ähnlich male ich mir die Reaktionen aus. Von Kirgistan haben die wenigsten eine Vorstellung und daher auch keine Meinung zum Land. Da ist erstmal Skepsis angesagt. Schließlich steht es nicht gerade ganz oben auf der Liste der Reiseziele von Deutschen. Das kleine unbekannte Fleckchen neben China, von dem man nicht mal weiß, ob es jetzt Kirgistan, Kirgisistan oder Kirgisien heißt. Weshalb viele den Namen einfach vorsichtshalber komplett vergessen. "Wohin gehst du nochmal? Kasachstan? Aserbaidschan?" Die Namensverwirrung lässt sich leider nicht ganz endgültig klären. Kyrgyzstan ist die korrekte Übertragung der ursprünglichen kyrillischen Schreibweise кыргызстан ins lateinische Alphabet. Die Briten halten sich dran und schreiben das Land immer noch so. Die Deutschen wollten den Namen ans eigene Sprachbild anpassen, heraus kam Kirgisstan - da sowohl "з" als auch "с" für einen s-Laut steht. Das sah aber noch komischer aus als das Original, daher wurde ein s gestrichen. Kirgistan ist also konsensfähig, wenn auch nicht ganz korrekt. Damit es ähnlich klingt, wie Kirgisen ihr Land aussprechen, kursiert auch Kirgisistan, sogar auf der Internetseite des Auswärtigen Amts. Ist aber streng genommen Quatsch, ebenso wie Kirgisien - auch wieder so eine Hörfassung, allerdings von der russischen Aussprache. Ohne die Endung -stan beraubt man Kirgisen außerdem ihrer Heimat. Denn diese schöne, aus dem Persischen stammende Endsilbe bedeutet "Heimat von". Kirgis-stan ist also die Heimat der Kirgisen.* Neunmalkluge können auch Kirgisische Republik sagen - als Übersetzung der offiziellen Landesbezeichnung. Ich bleibe bei Kirgistan. Warum aber interessiere ich mich für dieses Land? Auch das ist nicht einfach in einem Satz zu beantworten. Wie jede Faszination ist es eine Mischung aus vagen Gefühlen, Vorstellungen, Ideen, die sich nicht in Worte kleiden und zusammenfassen lassen, ohne, dass der Reiz dadurch verfliegt. Anders gesagt: Ich kann höchstens den Auslöser für meine Neugier auf das Land benennen. Denn ich erinnere mich noch an die erste bewusste Begegnung mit dem Flair Kirgistans. Und die hatte ich in Berlin, genauer gesagt in der Neuköllner Eckkneipe "Laika" an einem Mittwochabend im November 2011. Das erste kirgisische Filmfestival verschlug mich dorthin, auf dem Programm standen Kurzfilme. Und die haben mich nachhaltig beeindruckt. Die Farben, die Atmosphäre, die unendliche Weite des Landes, auf der doch eine wehmütige Schwere lastet. Der Abend zog schnell vorüber, zurück blieb das Bild vom kleinen Vogel und der feste Wille: Dieses Land werde ich mal bereisen. Einen Einblick gibt’s hier: The Earrings, Nargiza Mamatkulova, 2009 https://www.viddsee.com/video/the-earrings/asfet?locale=en |
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Fernsehmacherin. ArchivKategorien |